Agenda 2010 im Zusammenhang mit dem PCB-Skandal

Vor 15 Jahren, am 14. März 2013 stimmte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) den deutschen Bundestag auf die Agenda 2010 ein: »Niemandem aber wird es künftig gestattet sein, sich zu Lasten der Gemeinschaft zurückzulehnen; wer zumutbare Arbeit ablehnt, der wird mit Sanktionen rechnen müssen.« Die Agenda 2010 ermöglichte (unter anderem) die massenhafte Einführung von Leiharbeit in Betrieben. Hinzu kamen weitere Einschnitte sozialstaatlicher Absicherung (u.a und nicht zuletzt die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe durch "Hartz IV" auf Sozialhilfeniveau) und die Einführung eines Niedriglohnsektor in Deutschland.

Die Agenda 2010 war auch ein "Meilenstein", der den Envio-Skandal ermöglichte. Denn auch der Betriebsablauf von Envio, mit nur wenigen Leuten an Stammbelegschaft, stützte sich vor allem auf den Einsatz von vielen Arbeitskräften aus Verleihfirmen. Und bei dieser prekär beschäftigten Randbelegschaft wurde zynischerweise am Lohn und an Arbeitsschutzstandards gespart.
In dem Artikel aus dem Jungen Welt vom 01.03.2018 werden kenntnisreich, knapp und verständlich Wesen und Wirkung der Agenda 2010 dargestellt.

 

Thema PCB generell

Europäische Gesellschaft für gesundes Bauen und Innenraumhygiene (2019): Bewertungen von Informationen und Prüfberichten zu Produkten/Produktgruppen, Schadstoffen Bausystemen beimEinsatz in Gebäuden mit erhöhten Anforderungen an die „Wohngesundheit“ (Schulen, Kitas und Risikogruppen: Allergiker, Chemikaliensensitive, Schwangere, Kleinkinder...) Informationsstand: 24.05.2019 Raumschadstoff PCBpolychlorierte Biphenylegesundheitliche FolgenGrenzwerterechtliche FragenPCB in Schulen und Kitas: Raumschadstoff PCB


Gift im Klassenzimmer (planet/e) 20.11.2016 ZDF
"Unterricht an Deutschlands Schulen kann gefährlich sein: Asbest, PCB und Formaldehyd belasten die Luft in den Klassenzimmern. Für über 30 Milliarden Euro müssten die Schulen saniert werden.Lehrer und Kinder zugleich: Viele von   Ihnen setzen sich täglich Giftstoffen aus, ohne es zu wissen. Asbest, PCB, Formaldehyd, Weichmacher und Co. verpesten die Luft in den Klassenzimmern der Nation. Die direkten Folgen: Kopfschmerzen, Konzentrationsstörungen, Übelkeit und  Atemnot bis hin zu allergischen Reaktionen, Vergiftungen und Immunkrankheiten. Manche Chemikalien stehen sogar im Verdacht, die Zeugungsfähigkeit zu beeinträchtigen oder Krebs zu fördern. Solche Folgen werden erst in vielen Jahren zu spüren sein."


Spiegelbericht aus dem Jahr 1971: Ein früher Bericht des "Spiegel"- 1971 ging es um die Einstellung der PCB-Produktion.

 

Der Fall Envio in der überregionalen Berichterstattung

Chronologien der "taz"

Die taz stellt sämtliche ihr vorliegenden Dokumente chronologisch aufgearbeitet zum Download zur Verfügung:
Verfahrensakte von 08/2004 bis 06/2010 (440 Seiten) > hier.

Genehmigungen 12/1985 bis 05/2010 (484 Seiten) > hier.

IG Metall

Metallzeitung 1/2011 "Wenn Arbeit krank macht" > hier.

Metallzeitung 2014, Silvia Koppelberg über gesundheitliche Folgen des PCB bei einem ehemaligen Mitarbeiter. >hier

 

Der Fall Envio in Dortmund in der lokalen Berichterstattung

23.12.2015 RN Blickpunkt Envio: Gregor Beushausen beschreibt anhand dreier Beispiele wie die Folgen des Giftskandals das Leben ehemaliger Envio Mitarbeiter und ihrer Familien verändert hat.

Der Westen 25.11.2015: Oliver Volmerich zum Start der Envio-Sanierung.

nordstadtblogger 25.11.2015:   nordstadtblogger zum Start der Sanierung.

Der Westen 12.10.2015:  Michael Schnitzler berichtet über den Verkauf des Envio-Geländes an einen Investor.

Nordstadtblogger 10.10.2015: Joachim vom Brocke berichtet von einem Pressetermin der BI.

 Der Westen Suchbegriff "Envio": Auf dem Portal finden sich viele Artikel zum Thema PCB-Skandal bei der Firma Envio.

Der Westen 25.05.2010 "Die Giftfirma": Klaus Brandt berichtet über die Aufdeckung des Skandals und erste rechtliche Schritte gegen das Unternehmen.

Der Westen 12.01.2010 "Gesundheitsgefährdende Gifte am Dortmunder Hafen": Bericht über die damals noch andauernde Suche nach dem Emittend der Gifte.

 

 

Radiosendungen

Envio-PCB-Skandal, Naziaktivitäten in Dortmund auf Radio Brennessel - dem Lokalradio Dortmund auf DO 91,2 am  8.9.2016

Radio 91.2  25.11.2015

Radio 91.2 12.10.2015

Interview der Envio BI auf Radio Brennessel - dem Lokalradio Dortmund auf DO 91,2 bei Envio (18:54) am 5.9.2013

WDR Mediathek Suchbegriff "envio"


 Der Hafen ist nicht das einzige Dioxin- belastete Areal  in Dortmund

Zum Thema Westfalenhütte- ehemaliges Gelände der Sinteranlage Hoesch soll neu genutzt werden

 FOCUS Magazin | Nr. 39 (1993):

 

Schleichendes Gift aus dem Stahlwerk

 

Ein einziges Stahlwerk in Dortmund pustet dreimal so viele Dioxine in die Luft wie alle Müllverbrennungsanlagen (MVA) Deutschlands zusammen. Die Sinteranlage von Hoesch entpuppte sich bei Messungen der nordrhein-westfälischen Landesanstalt für Immissionsschutz als die größte bisher bekannte industrielle Dioxinquelle.

Sämtliche MVAs in Deutschland stoßen jährlich etwa 100 Gramm Toxizitätsäquivalente an Dioxin aus. Die Hoesch-Sinteranlage bringt es allein auf 250 Gramm. Auch andere Stahlwerke produzieren Dioxine – jedes mehr als eine Müllverbrennungsanlage. Selbst die mit Unterstützung des Umweltbundesamts umgebaute Sinteranlage der Bremer Firma Klöckner emittiert etwa zwei- bis dreimal soviel wie die Bremer MVA.
Umweltstaatssekretär Uwe Lahl vermutet noch größere Emissionen in anderen Ländern Europas. Er fordert einheitliche Grenzwerte für alle europäischen Stahlwerke. Bei überstürzten Reaktionen in Deutschland bestehe die Gefahr, daß die „weit größeren Dreckschleudern im Ausland“ unbehelligt bleiben.

 

Anwohner der Hoesch-Sinteranlage sollten Sicherheit über Prüfung von Dioxinimmissionen erhalten. - Ausschussbericht;

 

 Landtag intern, 25. Jahrgang, Ausgabe 22 vom 23.12.1994, S. 14


Während der 40. Sitzung des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses II "Dioxin" unter der Leitung des stellvertretenden Ausschußvorsitzenden Egbert Reinhard (SPD) stand am 9. Dezember erneut die Rolle des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS) im Mittelpunkt. Als Zeugen wurden Arbeits-, Sozial- und Gesundheitsminister Franz Müntefering (SPD) sowie der MAGS-Mitarbeiter Dr. Helmut Weber gehört. Beide standen dem Ausschuß zum wiederholten Mal Rede und Antwort.

Minister Müntefering schilderte zunächst die Richtlinien der Landesregierung für die Vergabe von Gutachten. Wenn die Notwendigkeit eines solchen Auftrags "nach außen" festgestellt sei, müsse geprüft werden, ob der Auftrag an eine in Nordrhein-Westfalen ansässige Institution vergeben werden könne und ob eine Ausschreibung erforderlich sei oder eine freihändige Vergabe genüge. Ferner müsse sich der Auftraggeber, das bedeute das Ministerium, die Überwachung des Vorhabens sichern, damit die Ausgangsfragestellung hinreichend beantwortet werde. Im konkreten Fall der Dioxin-Studie sei eine beschränkte Ausschreibung unter drei Bewerbern erfolgt, von denen der preiswerteste den Zuschlag erhalten habe, erklärte Müntefering.

Der Anlaß für die Studie habe darin bestanden, den Anwohnern der Hoesch-Sinteranlage in Dortmund-Scharnhorst die Sicherheit zu vermitteln, daß Dioxinimmissionen bei ihnen geprüft würden. Nach Meinung des zuständigen MAGS-Beamten und Referatleiters für Arbeitsmedizin Dr. Weber habe jedoch bereits im vorhinein aufgrund vorliegender wissenschaftlicher Erkenntnisse festgestanden, daß von der Sinteranlage keine Gefährdung der Bevölkerung ausgehe. Müntefering erklärte, daß Weber den Gutachtern hinsichtlich der ermittelten Ergebnisse keine Vorgaben habe machen können. Jedoch habe Weber Empfehlungen zur Art und Weise der öffentlichen Vermittlung der Ergebnisse geben dürfen. Hierbei entstand nach Worten des Ausschußmitglieds Bärbel Höhn (GRÜNE) der Eindruck in der "subjektiven Wahrnehmung der unteren Behörden", namentlich des Dortmunder Gesundheitsamts, sie wurden durch Dr. Weber vom MAGS "unter Druck gesetzt".

Weber bestritt während seiner Vernehmung mehrfach, jemals Druck ausgeübt zu haben. Hierbei verwies er auf die weitgehende Autarkie der Gesundheitsämter sowie auf seine dienstliche Erklärung, auch auf Gutachter keinen Druck ausgeübt zu haben. Er könne sich auch nicht erklären, weshalb bei mehreren Personen habe überhaupt der Eindruck entstehen können, er habe Pressionen auf sie ausüben wollen. Die Leiterin des Dortmunder Gesundheitsamts habe er lediglich gebeten, sich an die Erkenntnisse ihrer eigenen Fachleute zu halten, insbesondere hinsichtlich der vom Gesundheitsamt bekanntgegebenen Vorsorgemaßnahmen, selbstgezogenes Obst zu schälen und auf den Verzehr bestimmter Gemüsesorten ganz zu verzichten. Laut Weber trügen derartige Empfehlungen nicht zur Beruhigung, sondern vielmehr zur Beunruhigung der Bevölkerung bei.

Darüber hinaus versuchten mehrere Ausschußmitglieder die Frage zu klären, ob die Aussagen des MAGS zur Unbedenklichkeit der Dortmunder Dioxinwerte objektiv und wissenschaftlich fundiert seien oder vielmehr auf der Interpretation durch Dr. Weber beruhten. Es wurde in Frage gestellt, ob das MAGS an größtmöglicher wissenschaftlicher Pluralität interessiert sei, da bei zahlreichen Studien immer wieder dieselben Autoren vorkämen. Weber erklärte diesen Umstand damit, daß erstens wegen der Begünstigung von in NRW ansässigen Instituten und zweitens wegen der geringen Zahl qualifizierter Anbieter die Variationsmöglichkeiten bei der Auftragsvergabe gering seien.  

Logistik auf der Westfalenhütte: Areal der ehemaligen Sinteranlage für Gewerbe- und Industrieflächen Nordstadtblogger 12.10.2015

So stellt sich die Stadtplanung die innere Erschließung der ehemaligen Sinteranlage vor:

 

Die Planungen sehen vor, das Areal als Gewerbe- und Industrieflächen für Logistikunternehmen zu entwickeln. Eigentümer des Bereichs ist die Dortmund Logistik GmbH.

 

Um die Fläche vermarkten zu können, ist es notwendig, den gesamten inneren und äußeren Bereich entsprechend durch den Eigenbetrieb Stadtentwässerung (für den Kanalbau) sowie durch das Tiefbauamt (für den Straßenbau) zu erschließen.

Um eine schnelle Vermarktung und Bebauung des Geländes zu erreichen, wird dem Investor die Durchführung der Baumaßnahme übertragen und die Verwaltung ermächtigt, notwendige städtebauliche Verträge abzuschließen.

Im sogenannten äußeren Bereich soll hierfür die Rüschebrinkstraße nach Westen verlegt und zunächst bis zur Einmündung der neuen Planstraße A ausgebaut werden. Die Kosten der äußeren Erschließung umfassen den Straßen- und Kanalbau und betragen insgesamt rund 1,6 Millionen Euro.

Gesamtvolumen der notwendigen Investitionen belaufen sich auf rund 7,5 Millionen Euro

Die innere Erschließung westlich der zu verlegenden Rüschebrinkstraße (der ehemaligen Sinteranlage) soll über zwei neue Straßen (Planstraße A und Planstraße B) erfolgen. Ausgehend von der Rüschebrinkstraße erfolgt die Erschließung über die Planstraße A und als Abzweig von der Planstraße A in nördlicher Richtung ausgehend mit der Planstraße B.

Die innere Erschließungsmaßnahme umfasst den kompletten Kanalbau, den Bau eines Regenrückhalte- und Regenklärbeckens, den Straßenbau inklusive Verkehrsgrün, Beschilderung und – sofern notwendig – Markierung sowie die Beleuchtung mit einem Gesamtvolumen von rund 7,5 Millionen Euro.


 

Prozessbegleitung M.Hildebrandt, Artikel für die AZ

1 (4-2012)

PCB-Skandal bei Envio: Profit contra Leben

Am 9.Mai 2012 begann in Dortmund vor dem Landgericht der Prozess gegen die Umwelt-Skandalfirma Envio, ihren Chef Dirk Neupert und drei Kollaborateure.

Das Gerichtsgebäude ist leicht zu finden; vor dem Haupteingang stand schon eine etwas größere Gruppe von Menschen mit Schildern. Bei näherem Hinsehen erwies sich jedoch, dass zumindest die Schilderträger Mitglieder der Grünen waren, die offenbar den Prozess für ihren Wahlkampf missbrauchten.

Der Prozess fand in großen Saal 130 statt - der liegt im 1. Stock und einen Fahrstuhl gibt es angeblich nicht. Eine gehbehinderten Frau, die die Mühen des Treppensteigens auf sich nahm, um dabei zu sein, wurde von Gerichtebediensteten damit vertröstet, dass im Laufe der Zeit das öffentliche Interesse nachlassen werde, dann könne man die folgenden Prozesstermine in einem kleineren Saal unten machen... Nachdem wir die Sicherheitsschleusen überstanden hatten, musste einer der Besucher feststellen, dass es im Landgericht – zumindest in dem für uns zugänglichen Teil - angeblich auch keine Toiletten gab...

Erstaunlicherweise waren zum Prozess alle vier Angeklagten erschienen, äußerten sich jedoch während der gesamten Termindauer nicht zu den gegen sie erhobenen Vorwürfen. Die trug der Staatsanwalt etwa eine Stunde lang vor. Er war noch wesentlich ausführlicher als der schon informative Dokumentarfilm des WDR „Grünkohl, Gifte und Geschäfte“.

Danach wollte einer der Verteidiger eine Gegenrede vortragen. Der Richter entschied daraufhin, seine Vollmachten so auszulegen, dass er die Gegenrede zuließ, obwohl es dafür keine rechtliche Grundlage gibt. Dem widersprach der Staatsanwalt - allerdings vergebens.

Die „Gegenrede“ der Verteidigung glich dann eher einem Schlußplädoyer, was der Richter allerdings nicht unterband. Sie war entnervend lang, wimmelte von Unterstellungen („Hetzkampagne der Medien“, das Vorgehen des Umweltministers sei politisch motiviert, sachlich unbegründet und somit ein ungeheurer Skandal usw.), sie wimmelte von Spitzfindigkeiten wie unterschiedlichen juristischen Bewertungen von „Schadstoffen“ und „Abfällen“, und gipfelten in indirekten Drohungen gegen die 22 als Nebenkläger auftretenden geschädigten ehemaligen Envio-Beschäftigten. Er wies sie darauf hin, dass ihnen, falls sie den Prozess verlören, die Prozesskosten auferlegt würden... Außerdem beleidigte er sie, in dem er ihre gesundheitlichen Schäden auf „ungesunden Lebensstil“ zurückführte. Diesen Zynismus wiederholte er dann gegenüber Fernsehreportern noch einmal. In allen Medien, die ich gesehen bzw. gelesen habe, wurde diese Aussage des Verteidigers herausgegriffen – insofern ist es vielleicht ganz gut, dass er seine „Gegenrede“ halten und sich so entlarven konnte... Mit der Erklärung hat er ja sogar Recht, nur vergisst er, dass ja gerade wegen des ungesunden Lebensstils der bei ihm Beschäftigten sein Mandant auf der Anklagebank sitzt... Ein weiteres tolles „Argument“ war, dass ja gar nicht nachgewiesen sei, wie stark die PCB-Belastung durch Envio bei den Geschädigten sei, denn bei ihrer Einstellung habe man nicht festgestellt, welchen PCB-Gehalt sie da „wie jeder von uns“ schon in sich hatten...

Dirk Neupert würden im Falle einer Verurteilung wegen vorsätzlicher Körperverletzung bis zu 10 Jahre Haft drohen, doch da er und seine drei Mittäter nur wegen fahrlässiger Körperverletzung angeklagt sind, haben sie keine Haftstrafe zu befürchten. Im Zuhörerraum waren einige Mitglieder der Bürgerinitiative, die dankbar klatschten, als die Seite der Staatsanwaltsschaft die Gegenrede der Verteidigung auch moralisch richtig einstufte. Ihr Klatschen wiederum veranlasste den Richter dazu, jede Reaktion aus dem Publikum zu untersagen. Die Mitglieder der Initiative sind überzeugt davon, dass es zwischen „denen da oben“ ein Gekungel gibt. „Die haben Angst davor, dass der Neupert auspackt, wenn sie ihn in die Zange nehmen.“

Mit dem Verlesen der „Gegenrede“ war der erste Prozesstag beendet. Der Richter teilte noch mit, dass es an den nächsten 5 oder 6 Terminen um die in der Vergangenheit für und gegen Envio erteilten Genehmigungen und Stilllegungbeschlüsse gehen werde - erst danach käme es zur Beweisaufnahme und zu Zeugenbefragungen. Eine der Prozessparteien zitierte aus den Akten einmal die Seite 6761 oder so ähnlich - das war bestimmt nicht die letzte Seite der Akten. Insgesamt rechnet er mit noch etwa 15 Terminen.

Soweit der Bericht eines am ersten Prozesstag anwesenden Zuhörers. Inzwischen haben weitere Termine stattgefunden, die aus stundenlangen Verlesen von jahrzehntealten Papieren aus den Genehmigungsverfahren bestanden. Interessant könnte es wieder am 4. Juli werden – da soll ein Gutachter aus Essen Stellung nehmen (Landgericht Dortmund, Raum 130, ab 9:30 Uhr).

Die Bürgerinitiative „PCB-Skandal“ trifft sich an jedem dritten Mittwoch eines Monats von 18-20 Uhr im Keuninghaus in Dortmund in der Leopoldstr. 52-58.

Zu ihrem Treffen im April kamen fast 60 Leute, zum Treffen im Mai - nach dem ersten Prozess – nur etwa 15. Die Erklärung ist wohl einfach: sie haben nicht etwa resigniert, sondern der April-Termin lag vor den Landtagswahlen in NRW und die um Stimmen buhlenden Parteien rannten der Bürgerinitiative die Bude ein. Nun sind die Wahlen vorbei, die Inititive ist uninteressant geworden, nur die Piraten kamen im Mai noch, sagten auch für die Zukunft ihre Unterstützung zu und fragten, wie sie helfen könnten. Die Empörung der im Mai Anwesenden über die übrigen Parteien ist groß. Die Linkspartei unterstützt die BI ebenfalls und auch ein Mitglied der Grünen – er ist wahrscheinlich ebenfalls ein Giftopfer.

Die 51 Geschädigten, deren Vergiftung durch die Arbeit in der Recycling-Firma Envio den 4 Angeklagten vorgeworfen wird, stehen auch dann, wenn der Prozess für sie mit einem Erfolg enden sollte, vor großen Schwierigkeiten. Ihre Verseuchung durch PCB wird nicht als Berufskranheit anerkannt, denn – anders als in anderen europäischen Ländern – sind in Deutschland die gesundheitsschädlichen Auswirkungen von PCB wissenschaftlich angeblich nicht bewiesen. So fahren die Opfer zwar zu allen möglichen Untersuchungen über die Veränderungen in ihrem Körper, z.B. nach Aachen, doch geholfen wird ihnen dort nicht – sie werden lediglich „medizinisch begleitet“, d.h. ihr Zustand wird datenmäßig festgehalten. Das ist richtig und notwendig, da dann unleugbare Fakten über die Gefährlichkeit vorliegen. Für drei Jahre zahlt die Berufsgenossenschaft diese Untersuchungen – und dann?

Eine medizinische Betreuung der Opfer gibt es nicht, es sei denn die durch ihren Hausarzt, der jedoch im Normalfall nicht über die notwendigen Fachkenntnisse und technischen Untersuchungsmöglichketen verfügt, um PCB-Schäden zu erkennen bzw. zu behandeln. Ein PCB-versechter ehemaliger Envio-Beschäftigter drückte es sehr drastisch aus: “ Noch zwei Jahre – und dann ab in die Tonne!”

Opfer der PCB-Vergiftung durch die Recyclingfirme Envio sind nicht nur die ehemals dort Beschäftigten, sondern z.B. auch ihre Familienangehörigen und die Anwohner. Jeder Mensch hat in seinem Körper eine gewisse PCB-Belastung, doch die Werte bei den Envio-Geschädigten liegen z.T. um das mehr als Hunterfache über diesen Werten. Einen Grenzwert, der nicht überschritten werden dürfte, gibt es nicht, da jede – auch die geringste – PCB-Konzentration schädlich ist. Daher hat man einen „Präferenzwert“ gewissermaßen zusammengebastelt, der nicht überschritten werden darf, bei Envio aber deutlich überschritten wurde.

Prof. Michael Wilhelm, Arbeitsmediziner der Universität Bochum, wies übrigens darauf hin: „Zum Beispiel lässt sich über eine Blutanalyse unterscheiden, ob die PCB-Belastung über die Nahrung oder die Luft entstanden ist.“ (1) Damit wäre die unverschämte Unterstellung eines „ungesunden Lebensstils“ der Vergifteten dann auch wissenschaftlich vom Tisch...

Völlig unklar ist übrigens auch noch, was mit dem verseuchten Gelände der inzwischen stillgelegten Envio-Anlagen und mit deren Umgebung im Hafengelände passieren soll – der Boden ist hochgradig vergiftet. Durch den Lastwagenverkehr wird der verschmutzte Boden aufgewirbelt und das Gift mit Feinstaub weiterhin verbreitet. Die Bürgerinitiative hat den Eindruck, dass der Skandal im wahrsten Sinne des Wortes unter den teppich gekehrt werden soll. Der Hafen soll als Wirtschaftsstandort ausgebaut werden und es besteht die Gefahr, daß über den kontaminierten Boden ledicglich eine Gesteinsdecke gekippt wird. „Die bauen keinen Wirtschaftsstandort – die bauen eine Müllkippe aus,“ drückte das ein Mitglied der BI sarkastisch aus.

Übrigens: Herr Neupert macht in Südkorea genau so weiter, wie es ihm in Dortmund untersagt wurde. Auch dort huldigen die Arbeiter einem “ungesunden Lebensstil”...

Die Bürgerinitiative hat übrigens eine Hompepage mit vielen Informationen: www.pcb-scandal.de. Hier (oder bei YouTube bzw. im Archiv des WDR) kann man sich auch die etwa 45minütige, sehr eindrucksvolle Dokumentation des WDR „Grünkohl, Gifte und Geschäfte“ ansehen.

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1) Recklinghäuser Zeitung bzw. Zeitungshaus Bauer, 19.6.2012

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 2 (5-2012) Envio Dortmund - nach dem Umweltskandal jetzt auch ein Justiz-Skandal?

Zu Beginn des Juli gab es vor dem Dortmunder Landgericht die erste Befragung eines medizinischen Gutachters über die gesundheitlichen Gefahren, die von den PCB-Verbindungen ausgehen. Bis dahin hatte es - abgesehen vom ersten Prozesstermin - nur langweilige Verhandlungstage gegeben mit stundenlangem Verlesen von Dokumenten aus den Genehmigungsauflagen der Bezirksregierung Arnsberg und den Stellungnahmen von Envio dazu.

Die derzeitige Entwicklung gibt zur Sorge Anlass. Schon die Berichte in den Medien erweckten - die Darlegungen des Sachverständigen Albert Rettenmeier von der Universität Duisburg-Essen entstellend - den Eindruck, gesundheitsschädigende Auswirkungen von PCB-Stoffen seien nicht bewiesen und nicht nachweisbar. Am 19. Juli brachten die Medien Meldungen mit zum Beispiel folgender Überschrift: "Envio-Prozess steht vor dem Aus." Das wirft die Frage auf:

Wird aus dem Umweltskandal nun auch ein Justizskandal?

Diese Befürchtung wird durch das bisherige Verhalten des Richters Kelm nicht gemildert. Die Verteidigung hatte an den vergangenen Prozesstagen mehrfach Anträge gestellt, die laut Prozessordnung nicht hätten zugelassen werden müssen; die Staatsanwaltschaft bzw. die Vertretung der Nebenkläger haben jedesmal gegen die Zulassung dieser Anträge protestiert, doch das beeinflusste den Richter nicht - er ließ die Anträge nach eigenem Ermessen zu. Wenn ein Prozessbeobachter den Eindruck bekommen haben sollte, der Richter sei den Angeklagten bzw. deren Verteidigern wohlgesonnen, so können wir das verstehen.

Auch beim ersten Sachverständigen-Termin ging die Verteidigung so vor und kam sich wohl besonders schlau vor, weil sie die (alten) Gutachten des geladenen Sachverständigen Rettenmeier zugunsten ihrer Mandanten auslegte. Als der dann aber zu Wort kam - er berichtete mehr als zwei Stunden lang über die wissenschaftlichen Erkenntnisse über PCB und nahm zu Rückfragen Stellung - da schwamm der Verteidigung ein Fell nach dem anderen davon.

Vor allem aus seinem Bericht geben wir nur einige Dinge wieder; er war sehr ausführlich und wir hoffen, uns unterläuft im folgenden kein Fehler.

PCB-Verbindungen sind - wie Dioxine und Furane - künstliche, vom Menschen geschaffene Stoffe. Das bedeutet: es gibt in der Natur so gut wie keine abbauenden Organismen (Destruenten), die diese Stoffe in ihre Bausteine zerlegen und so dem Stoffkreislauf wieder zuführen; für die wenigen Bakterienstämme, die über entsprechende Gene verfügen, ist der Abbau anderer, natürlicher Stoffe ertragreicher. PCB-Verbindungen sind außerdem wasserunlöslich, aber fettlöslich, sie lagern sich daher z.B. im Fettgewebe ab und reichern sich dort an. Bei PCB-Verbindungen handelt es sich um zahlreiche unterschiedliche Stoffe (englische Autoren sind bisher auf 209 verschiedene Stoffe gekommen), die sich durch die Anzahl und die Position der in ihnen enthaltenen Chlor-Atome unterscheiden ("PC" bedeute "Poly-Chlor", also [unterschiedlich] viel Chlor). Dabei kann es sich um eine Verbindung mit nur wenigen Chlor-Atomen handeln oder um eine mit zahlreichen. Man weiß, daß die Verbindungen mit wenigen Chlor-Atomen ( = niederwertige PCBs) eine kürzere Halbwertszeit haben als die mit vielen ( = hochwertige PCBs), dass sie also "schneller" abgebaut werden.

Als man die Gefährlichkeit der PCB-Verbindungen erkannte, wurde ihre Verwendung in Deutschland 1989 und am 22. Mai 2001 weltweit verboten. Da sie verboten waren, erschien es auch nicht mehr notwendig, weitere wissenschaftliche Forschungen über die Wirkungen der unterschiedlichen PCB-Verbindungen durchzuführen. (Darauf beruft sich die Verteidigung jetzt). Es ist klar, daß jede Verbindung anders wirkt, aber man weiß (oder wusste bis zum Envio-Skandal) nicht, welche dieser zahlreichen Verbindungen ab welchem Grenzwert bei wem welche Schäden hervorruft. Daher hat man für den Sammelbegriff "PCB" auch keinen Grenzwert, der nicht überschritten werden darf, sondern nur einen sogenannten Präferenzwert, dem eigentlich nur Vermutungen über mögliche Auswirkungen zugrunde liegen. Sicher war allerdings schon vor mehr als 20 Jahren, dass alle PCB-Verbindungen die Gesundheit schädigen.

Der Envio-Skandal hat dazu beigetragen, dass die wissenschaftlichen Forschungen wieder aufgenommen wurden. Und so konnte Herr Rettenmeier nun auch neue gesicherte Erkenntnisse mitteilen, um die seine früheren, von der Verteidiung zitierten Gutachten natürlich ergänzt werden müssen. So ist inzwischen gesichert nachgewiesen, dass niederwertige PCB-Verbindungen das Erbgut schädigen. Die Verteidigung versuchte hier, durch ein Schlupfloch zu entkommen, und wies darauf hin, dass diese neuen Erkenntnisse ja noch nicht der Gesetzgebung zugrunde lägen und deshalb ihre Mandanten auch nicht... Dieser Fluchtversuch wurde allerdings vom Sachverständigen vereitelt.

Die Anklage beantragte dann, dass eine erneute medizinische Untersuchung der Envio-Geschädigten durchgeführt wird, was wir für unbedingt erforderlich halten, schon um solchen Strategien wie denen der Verteidigung in Zukunft begegnen zu können. Die Reaktion auf diesen Antrag war bezeichnend: die Verteidigung wollte die Untersuchung beschränken auf eine relativ kleine Zahl der geschädigten Envio-Arbeiter, nämlich auf die, bei denen sie eine höhere PCB-Belastung im Blut nicht leugnen kann. Staatsanwaltschaft und Nebenklage forderten die Untersuchung von allen möglicherweise Betroffenen. Nun weiß jeder, dass eine wissenschaftliche Aussage um so gesicherter ist, je mehr Daten ihr zugrunde liegen, und jeder kann sich daher selber ein Urteil darüber erlauben, wer von beiden - Verteidigung oder Anklage - ein Interesse an fundierten Aussagen hat...

Der unserer Meinung nach richtige Antrag der Staatsanwaltschaft auf die medizinische Untersuchung droht nun zum Bumerang zu werden: die Verteidigung verunglimpft ihn mit dem Vorwurf der "Grundlagenforschung", die bei einem Gerichtsprozess nichts zu suchen habe. "Ich habe die Befürchtung, dass wir zu einer Aussetzung des Verfahrens kommen," wird Richter Kelm in der Presse zitiert. Die Untersuchung der 51 ehemaligen Envio-Beschäftigten und gar die von weiteren 259 Personen würde den Zeitplan der Richter sprengen.

Der zuständige Staatsanwalt reagierte natürlich auch. Schon dem "Sachverständigen-Versuch" der Verteidigung hielt er sinngemäß entgegen, dass für die von ihm erhobene Anklage die Auswirkungen von PCB nicht erheblich seien, er habe den Envio-Chef Dirk Neupert und drei weitere Manager angeklagt, weil sie gegen die dem Betrieb erteilten Auflagen erheblich verstoßen haben. Auch der Toxikologe Rettenmeier warf ihnen "offensichtliche Versäumnisse im Arbeitsschutz" vor.

Von diesen in der Anklageschrift erhobenen schweren Vowürfen ist bei den Überlegungen über eine mögliche Unterbrechung oder gar Einstellung des Prozesses auf einmal keine Rede mehr. Der von uns oben erfundene und zitierte Prozessbeobachter könnte nun sogar zu der Befürchtung kommen: "Will das Gericht den Angeklagten aus der Patsche helfen?" Sogar in der Tagespresse ist zu lesen: "Die Anwälte sehen sich bis lang in ihrer Verteidigungslinie voll bestätigt."

Bei einem weiteren Verhandlungstermin hat die Verteidigung einen eigenen Sachverständigen präsentiert, der - zumindest für uns überraschend - vom Richter ziemlich in die Mangel genommen wurde. Bei einigen Prozessbesuchern - befürchten wir - hat das zu der Illusion geführt, der Prozess könne doch im Sinne der Envio-PCB-Geschädigten zu Ende gehen. Derzeit sieht es so aus, als solle ein Gutachter die große Zahl der Geschädigten medizinisch untersuchen, was wir - es sei noch einmal betont - ausdrücklich begrüßen und auch fordern. Doch der Haken bei der Sache, der eigentlich keiner ist, sieht zur Zeit so aus: die Verhandlung gegen Neupert und Co kann angeblich erst weitergeführt werden, wenn die jahr(zehnt)elangen medizinischen Untersuchungen abgeschlossen und die Gegenschlechtachten widerlegt sind. Das halten wir für falsch.

Man stelle sich einmal vor: ein Autofahrer rast mit 100 Sachen durch die Dortmunder Innenstadt. Eine Polizeistreife hält ihn an, er soll Bußgeld zahlen und Punkte in Flensburg kriegen. Sein Anwalt sieht das gar nicht ein: "Weisen Sie erst einmal nach, dass ein Schaden entstanden ist!" Ist jedoch ein Schaden entstanden, ist z. B. jemand durch die Raserei verletzt worden, so gilt die Körperverletzung als entstanden "in Tateinheit" mit der Raserei, wobei die Verletzung als das schwerere Vergehen angesehen wird. Übertragen auf den Envio-Skandal heißt das, dass die (fahrlässige oder vorsätzliche) Körperverletzung zum Mittelpunkt des Prozesses gemacht werden soll; dazu sind lange und umfangreiche Untersuchungen nötig und es kann sein, dass ein gesundheitlicher Schaden durch das vom Envio-Betrieb verbreitete PCB erst nach Jahren auftritt - und auch dann müsste bewiesen werden, dass die Ursache bei Envio liegt.

Zu erwähnen noch, dass auch Herr Rettenmeier, für die medizinischen Untersuchungen vorgesehen, bald in den Ruhestand geht und dann nicht so ohne weiteres an die notwendige medizinische Ausrüstung herankommt.Der weitere Verlauf des Prozesses scheint vorgezeichnet: die - wir betonen es noch einmal - notwendigen medizinischen Untersuchungen der PCB-Opfer wird dazu führen, dass die Anklage wegen des Verstoßes gegen erteilte Auflagen nicht weiter verfolgt wird und sowohl diese Verstöße als auch die Vergiftung mehrere hundert Menschen für die Täter ohne Folgen bleiben wird - "die herrschenden Gesetze sind die Gesetze der Herrschenden." (Karl Marx)

Die Forderungen der Envio-PCB-Geschädigten muss eindeutig sein: weitere gerichtliche Verfolgung des Vorwurfs, Neupert und Co hätten bei Envio gegen die ihnen erteilten Auflagen massiv verstoßen und gleichzeitige Untesuchung der möglichen Opfer - gegebenenfalls müssten beide Verfahrensteile voneinander getrennt werden. Eine solche Forderung erheben und unterstützen wir.

Weil Du arm bist...

 

Eindrücke vom Envio-Prozess (PCB-Skandal) in Dortmund:

Der für den 2.Oktober erwartete juristische Super-GAU - die jahrelange Aussetzung oder gar die Einstellung des Verfahrens - blieb erfreulicherweise vorerst aus. Doch zu großen Hoffnungen, dass der Prozess im Sinne der PCB-Geschädigten verlaufen könne, besteht deswegen kein Anlass. Denn der Staatsanwalt machte einen völlig unerwarteten Schritt, er ruderte ganz massiv zurück, wie es der Vertreter der Nebenklage zu Recht und unter dem erheiterten Beifall der Verteidigung formulierte. Er, der den Envio-Chef der Körperverletzung an seinen Beschäftigten angeklagt hat, ist auf einmal der Ansicht, die gesundheitsschädigenden Auswirkungen von PCB seien wissenschaftlich noch gar nicht sicher bewiesen. Dabei beruft er sich auf zumindest angeblich unterschiedliche Einschätzungen von Wissenschaftlern. Deren Befragung als Sachverständige beantragte er nun, wofür der Richter einen Zeitraum von etwa sechs Wochn für notwendig hält.

Gegen die Befragung von Sachverständigen ist natürlich nichts einzuwenden, doch besteht die Gefahr, dass die Staatsanwaltschaft unterschiedliche Auffassungen der Sachverständigen zum Anlass nimmt, die Anklage wegen Körperverletzung der Envio-Beschäftigten einzustellen. Es ist an die Befragung von sieben Sachverständigen gedacht. Die wissenschaftliche Erforschung der 209 verschiedene chemische Verbindungen umfassenden Stoffgruppe mit der Sammelbezeichnung "PCB" ist noch nicht umfangreich, sie ist aber so umfassend geleistet worden, dass wissenschaftlich mit der notwendigen Sicherheit bewiesen (!) ist, dass alle PCB-Verbindungen gesundheitsschädlich sind und der begründete (!) Verdacht, viele - wenn nicht alle - von ihnen seinen z.B. krebserregend, hat dazu geführt, dass man diese Stoffgruppe in das "dreckige Dutzend" der gefährlichsten Stoffe einordnet und dass ihre Verwendung seit etwa zwei Jahrzehnten weltweit verboten ist. PCB-haltige Gegenstände wie z.B. Transformatoren dürfen daher nur mit Sondergenehmigung und mit strengen Auflagen verarbeitet werden. Wer diese Auflagen unterläuft - das wird dem bei Envio hauptverantwortlichen Herrn Neupert und drei Mitangeklagten vorgweorfen - handelt aus dem niederen Beweggrund Profitsucht und er nimmt dabei eine gesundheitliche Schädigung seiner Beschäftigten und der Anwohner billigend inkauf, wie das im Juristen-Deutsch heißt. Damit dürfte einer Verurteilung oder zumindest einem Strafverfahren eigentlich nichts im Wege stehen...

Doch wird es dazu jemals kommen? Es hat bisher mehr als zehn Prozesstermine gegeben seit Anfang Mai, eine etwa gleiche Anzahl soll es bis Mitte Dezember noch geben. Und dabei ist die Beweisaufnahme nocht nicht einmal eröffnet und es steht "in den Sternen", ob sie es jemals wird. Zu befürchten ist Folgendes: sieben Sachverständige werden zu einem schwierigen, noch unzureichend erforschten Thema befragt; da steht dann fast hundertprozentig fest, daß diese sieben Wissenschaftler zumindest in Teilfragen unterschiedlicher Meinung sein werden. Die uns bekannten Sachverständigen sind anerkannte Wissenschaftler verschiedener Universitäten, wir haben keinen Grund, an ihrer Seriosität zu zweifeln - ein "Sachverständiger" der Firma "Den-Namen-sag-ich-nicht" ist nicht dabei, bei dem sähe das eventuell anders aus...

Es wäre gut, wenn die Sachverständigen zu einem gemeinsamen Treffen geladen würden, sich miteinander beraten könnten und dann eine abschließende gemeinsame Stellungnahme herausgeben könnten darüber, in welchen Punkten sie sich geeinigt haben und in welchen nicht. Doch das ist unseres Wissens so nicht vorgesehen. Die Sachverständigen werden einzeln befragt werden - von einem Richter, der kein PCB-Sachverständiger ist, vom Staatsanwalt und den Nebenklägern, von der Verteidigung, die allesamt ebenfalls keine PCB-Sachverständigen sind, wenngleich sie heute darüber sicherlich besser Bescheid wissen als vor einem Jahr.

Was wird das Ergebnis sein? Die sieben Sachverständigen werden - da sind wir sicher - in einer Reihe von Teilfragen eine unterschiedliche Auffassung haben. Für den Staatsanwalt ergibt sich dann die Möglichkeit (wir unterstellen ihm diese Absicht), die Anklage zurückzuziehen, da ihre Grundlage wissenschaftlich nicht bewiesen sei; mit derselben Begründung könnte der Richter das Verfahren einstellen...

Selbst die bürgerlichen Medien stellten angesichts dieser drohenden Entwicklung die Frage: Was ist dann mit Schmerzensgeld und Entschädigung für die Geschädigten?

Die medizinische Untersuchung der Geschädigten lässt übrigens auch auf sich warten. Der schwarze Peter wird dabei den Opfern zugeschoben. Die müssen nämlich eine "Entbindungserklärung" abgeben, was offenbar noch nicht alle getan haben oder wenn doch, dann - da unter ihnen wohl kaum ausgebildete Berufsbürokraten sind - dann in unzureichender Form. Der Richter wörtlich: "Ohne die Mitwirkung der Geschädigten sind wir nicht in der Lage, etwas zu machen." (Einschub: Immerhin, der Richter bezeichnete die Envio-Opfer hier als Geschädigte und nicht als "angeblich Geschädigte" oder ähnlich und die Verteidigung erhob keinen Einspruch...)

Falls es jemanden geben sollte, der nicht weiß, was eine "Entbindungserklärung" ist: das ist die schriftliche Erklärung des Patienten, dass er seinen Haus- oder sonstigen Arzt von dessen Schweigepflicht entbindet. Denn die Krankheitsgeschichte des Envio-Geschädigten muss natürlich mit herangezogen werden. Und diese "Entbindung" ist keinesfalls so einfach: sollte aus den Unterlagen des bereits "entbundenen" Arztes hervorgehen, dass sein Patient in seinem bisherigen Leben auch mal bei anderen Ärzten in Behandlung war, so müssen die natürlich auch "entbunden" werden. Jeder von uns weiß: Gut Ding will Weile haben. Aber ob das, was hier nach ich weiß nicht welcher Weile für die PCB-Vergifteten herauskommt, dann auch wirklich gut ist? Wenn der Staatsanwalt die Anklage der Körperverletzung fallen ließe, müsste das Gericht eigentlich sofort die Anklage gegen Envio wegen zahlreicher Verstöße gegen erteilte Auflagen verfolgen, doch das wagen wir nicht zu hoffen.

Die Einstellung des Verfahrens gegen Neupert und Komplizen könnte auch noch einen ganz anderen Hintergrund haben: es geht um das PCB-verseuchte Gelände in mindestens einem Kilometer Umkreis um das Envio-Werk am Dortmunder Hafen. Das ganze Gebiet müsste mit einem hohen Kostenaufwand saniert werden, auch zahlreiche Häuser und die Wohnungen der Geschädigten und deren Einrichtung. Natürlich streiten sich Neupert und Konsorten mit der Stadt Dortmund und mit ich weiß nicht wem sonst noch darüber, wer diese Kosten trägt (im Normalfall natürlich sowiewo der Steuerzahler...). Wenn nun das Ergebnis der Befragung der Sachverständigen sich so deuten ließe, dass "wir" über die tatsächliche Gefährlichkeit der PCB-Verbindungen eigentlich ja noch gar nichts Genaues wissen - tja, muss denn dann überhaupt saniert werden? Dann reicht es doch wahrscheinlich, über den ganzen Fall die Decke des Schweigens auszubreiten - äh, ich meine, eine Schicht Beton oder ähnliches über das Gelände zu kippen. Das kann doch so teuer nicht sein; da brauchen wir als Stadt Dortmund und Herr Neupert uns dann doch nicht zu streiten, über die paar Kröten werden wir uns schon einig werden. Und dann ist endlich Ruhe...

Kommentar eines Bochumer Opel-Arbeiters bei anderer Gelegenheit: "Als Arbeiter hast Du im Kapitalismus immer die Arschkarte gezogen!"

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4 (1-2013)

Putativ-Befangenheit...

Im Prozess um den PCB-Skandal der Dortmunder Firma Envio wurden zunächst zwei Sachverständige über die gesundheitlichen Schäden von PCB befragt. Sie wiesen darauf hin, dass die sogenannten "Schwellenwerte", also die Werte, oberhalb derer eine gesundheitliche Schädigung bei Menschen zu befürchten bzw. bewiesen ist, nach unten korrigiert wurden. Die Verteidigung stürzte sich auf diese Aussage und versuchte ganz offenbar, von einem der beiden Sachverständigen die Aussage zu erhalten, die Korrektur sei auf politischen Druck erfolgt. Doch der wies darauf hin, dass die ursprünglichen (zu hohen) Schwellenwerte auf die Eregebnisse von Tierversuchen zurückzuführen sind und die sind nicht einfach auf den Menschen übertragbar; jetzt gibt es (leider) genügend Ergebnisse auch für den Menschen, so dass die Schwellenwerte, die nicht überschritten werden dürfen, wissenschaftlich begründet nach unten korrigiert werden konnten und mussten.

Der dritte geladene Sachverständige - Herr Dr. Kruse - wurde vom Richter kurzfristig wieder ausgeladen, obwohl er aus Kiel angereist war. Grund für die Ausladung war ein Befangenheitsantrag der Verteidigung gegen Dr. Kruse. Der ist ein anerkannter Wissenschaftler auf dem Gebiet der Toxikologie und arbeitet an der Christian-Albrecht-Universität in Kiel. Er hält Vorlesungen und leitet Seminare; er ist aber vor allem auch ein Wissenschaftler, der sich engagiert. Bei den Engländern gibt es die Redensart "to call a spade a spade", was wörtlich übersetzt heißt "einen Spaten einen Spaten nennen" oder sinngemäß: eine Sache beim rechten Namen nennen. Das tat und tut Herr Dr. Kruse auch: in seinem Seminar und bei Vorträgen bezeichnete er die Vorgänge um die Firma Envio als Umweltskandal und warf und wirft den Angeklagten bewusste Verstöße vor.

Das nahm die Verteidigung nun zum Anlass, gegen ihn einen Befangenheitsantrag zu stellen. Geladen ist Herr Dr. Kruse als Sachverständiger, als anerkannter Wissenschaftler - die Verteidigung stellte seine Qualifikation hierfür ausdrücklich nicht infrage. Dass Dr. Kruse jetzt aber so weit geht, aus seinen wissenschaftlichen Erkenntnisse gesellschaftliche Rückschlüsse zu ziehen, macht ihn in den Augen der Verteidigung "befangen". Hauptargument der Verteidigung war dabei, dass dem Hauptangeklagten Neupert nicht zugemutet werden könne, einem Sachverständigen gegenüberzusitzen, der ihn moralisch "vor"verurteilt. Es ist bisher noch nicht bekannt geworden, dass Neupert oder einer der drei anderen Angeklagten jemals ein Wort oder eine Geste des Bedauerns für die PCB-Geschädigten geäußert hätten...

Auch gegen zwei andere von der Staatsanwaltschaft vorgeschlagene Gutachter meldete die Verteidigung fadenscheinige Ablehnungsbedenken an. So wurde Prof. Kraus, der an der Technischen Universität Aachen seit Jahren die gesundheitlichen Auswirkungen auf die Dortmunder PCB-Opfer untersucht, als voreingenommen hingestellt, weil in einem englischsprachigen wissenschaftlichen Artikel, an dem er mitgearbeite hat, im Zusammenhang mit Envio zweimal das Wort "scandal" auftaucht. Noch dreister wurde der Ablehnungsantrag gegen Prof. Frentzel-Beyme begründet: hier reichte es aus, dass er am "Umweltpolitischen Ratschlag" teilnahm, auf dem jemand anderer im Zusammenhang mit Envio von einem Skandal sprach und sagte, "dass Envio für zahlreiche Unternehmen stehe, in denen auf menschenverachtende Weise die Gesundheit und das Leben der Arbeitskollegen billigend aufs Spiel gesetzt werden, um Maximalprofite zu erreichen." (aus dem Protest-Schreiben der "Offenen Akademie - Fortschrittliche Wissenschaft" zum juristischen Entsorgungs-Versuch unbequemer Wissenschaftler, durch Envio-Verteidiger)

Die Verteidigung hat mit ihren vom Gericht übrigens zurückgewiesenen Ablehnungsanträgen dennoch ihr - wie wir unterstellen - eigentliches Ziel erreicht: den Prozess um mehrere Monate zu verschleppen. Das Gericht hatte im Mai noch mit nur etwa 16 Prozessterminen gerechnet - diese Zahl ist bereits überschritten und es wird mit einem Ende frühestens im Jahre 2014 gerechnet - möglicherweise wird sogar der Berliner Flugafen früher fertig... Und dabei ist das Gericht zum eigentlichen Hauptpunkt der Anklage (zahlreichen Verstößen gegen die Envio erteilten Auflagen) noch gar nicht gekommen. 2

 

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5 (2-2013)

Sachverstand unerwünscht...

Zwischenbericht vom Prozessverlauf um den PCB-Skandal bei Envio (Dortmund)

Zu Beginn des Prozesses - AZ hat schon mehrfach berichtet - im Mai 2012 ging der Richter noch davon aus, dass etwa 15-16 Prozesstermine notwengi seien und das Verfahren Mitte August 2012 beendet sein könne. Das hat sich inzwischen als völlig illusorisch herausgestellt. Nachdem zwischenzeitlich sogar einmal die Einstellung des Verfahrens drohte, geht das Gericht davon aus, dass es allein in diesem Jahr 57 Termine geben wird und es erst im Januar 2014 beendet werden kann. Aber möglichweise wird ja sogar der Berliner Flughafen eher fertig...

Im ersten Januar-Termin wurde ein Betroffener als Zeuge vernommen. Ihm waren die Mißstände im Betrieb aufgefallen, er hatte einige von ihnen mit Photos dokumentiert und diese der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Ihm wurde als Störer des Betriebsfriedens (juristisch heißt das sicherlich anders) fristlos gekündigt und er durfte nach der Kündigung im Werk keinen Schritt mehr unbeobachtet machen, nicht einmal seinen Spind unbewacht ausräumen. Im Betrieb hatte er z.B. die mangelnde Qualität verwendeter Absauggeräte bemängelt - die bliesen nach seiner Darstellung hinten das raus, was sie vorne einsaugten...

Zumindest in einer Dortmunder Tageszeitung wurden seine Aussagen am nächsten Tag als "Rache für die Kündigung" diffamiert, andere Zeitungen berichteten allerdings anders.

Der Hauptteil des Prozesses am 24.1. dauerte etwa 2 Stunden und bestand ausschließlich darin, dass das Gericht sich mit Anträgen der Verteidigung befassen musste und deshalb zur Beratung die Sitzung immer wieder unterbrechen musste - dafür ging etwa die Hälfte der Zeit drauf.

Als Altlast vom vorherigen Termin wies der Richter den Antrag der Verteidigung ab, Prof. Kraus als "sachverständigen Zeugen" nur zu den Personen zu befragen, die er selbst untersucht hat. Prof. Kraus arbeit an der Technischen Universität Aachen und hat von der Stadt Dortmund und der Bezirksregierung in Arnsberg den Auftrag erhalten, die Envio-Geschädigten "medizinisch zu begleiten" - und er tut dies offenbar sehr gründlich. Begründung des Richters für seine Ablehnung (mit meinen Worten): Prof. Kraus ist der Leiter des Gesamtprojektes, bei ihm laufen alle anderen Informationen usw. zusammen, er hat also als einziger den Gesamtüberblick.

Doch so schnell lässt sich ein Verteidiger nicht abspeisen. Es folgte fluggs der Antrag, Prof. Kraus solle als "sachverständiger Zeuge" nur Untersucbungsergebnisse vorlegen, ohne sie als Sachverständiger zu beurteilen - sein Sachverstand war also für die Verteidigung nicht erwünscht. Mir als Nichtfachmann kommt das so vor, als dürfe ein Arzt zwar festellen: Der Patient hat 40 Grad Fieber, aber er darf nicht sagen: das liegt an der Erkältung. Dieser Antrag wurde abgelehnt.

Doch so schnell... siehe oben. Es zeigte sich jetzt, dass - anders als ich zu wissen glaubte - über den "alten" Befangenheitsantrag der Verteidigung gegen Prof. Kraus bisher noch nicht endgültig entschieden war. Das tat der Richter jetzt - er lehnte mit einer sehr ausführlichen Begründung auch diesen Antrag ab.

Doch so schnell... ja, ja, das kennen wir schon. Die Verteidigung erreichte eine erneute Unterbrechung, weil sie die Ablehnung der Ablehnung ablehnte und dazu eine Begründung formulieren wollte. Die stützte sich dann hauptsächlich auf eine von Prof. Kraus gemachte, schon einige Zeit zurückliegende und daher bekannte Äußerung, dass es unumgänglich sei, den Envio-Betrieb sofort stillzulegen. Da sieht man doch, dass er mit einer vorgefassten Meinung an seine Untersuchungen geht, denn er fordert die Schließung ja, bevor durch den Prozess bewiesen ist, dass bei Envio...und damit ist seine Befangenheit doch eindeutig bewiesen... Außerdem hat Prof. Kraus geäußert, dass seine Untersuchungen die schädlichen Auswirkungen der Arbeitsbedingungen bei Envio... also schon wieder befangen! Der Staatsanwalt griff hier sofort energisch ein, ohne eine Unterbrechungspause zu beantrage; im Gegensatz zur Verteidigung konnte er das auch so. Er wies darauf hin, dass es auch die Aufgabe von Prof. Kraus ist, die PCB-Geschädigten psychologisch zu betreuen, und darauf, dass das Aachener Forschungsprojekt nicht von Prof. Kraus privat initiert wurde, sondern dass er den offiziellen Auftrag dazu erhalten und übernommen hat.

Prof. Rettenmeier und Prof. Kraus waren anwesend, wurden aber dank der Verzögerungstaktik der Verteidigung nicht gehört. Bis zum nächsten Termin am folgenden Montag sollte über den erneuten Befangenheitsantrag entschieden werden - der Verteidigung fällt dann sicher noch mehr ein. Die beiden verhinderten Sachverständigen Zeugen wurden aus dem Publikum verabschiedet mit "Bis Montag!", was sie mit Heiterkeit quittierten.

Doch daraus wurde dann am Montag doch nichts. Der Hauptangeklagte Neupert hatte sich mit einer Erkrankung entschuldigt und auch sein Rechtsanwalt war - wohl deshalb - nicht anwesend. Zur Art der Krankheit bemerkte der Richter nur, Herr Neupert habe Konzentrationsprobleme... Die sollen übrigens PCB-Geschädigte auch haben.

Der Staatsanwalt zog die Konsequemzen aus dem Verlauf der letzten Verhandlung, er stellte einen gut begründeten Antrag, der Verteidigung bis zum nächsten Prozesstermin am 15. Februar aufzuerlegen, alle ihr jetzt bekannten bzw. bis dahin noch bekanntwerdenden Fakten, die eine Befangenheit des Sachverständigen Prof. Kraus begründen könnten, vorzulegen, und er warf der Verteidigung Prozessverschleppung vor - für jeden Zuhörer, der beim letzten Termin anwesend war, völlig nachvollziehbar und auch für die Anwälte der Nebenkläger. Nur für die Verteidiger völlig unverständlich. Einer von ihnen, der bei den bisherigen Terminen kaum etwas gesagt hatte, musste plötzlich die Rolle des "Spielführers" übernehmen, da der bisherige Wortführer der Verteidigung ja wohl am Krankenbett des Herrn Neupert saß... Der "Ersatz-Spielführer" wies den Antrag des Staatsanwalts empört zurück und verurteilte die Schärfe, die dieser damit angeblich in das Verfahren brächte.

Interessant sind hierbei die Formulierungen, die die Anwälte der Nebenkläger bzw. die übrigen Anwälte der Verteidigung benutzten - Juristen pflegen ja möglichst "unanfechtbar" zu formulieren. Die vom Richter zum Antrag des Staatsanwalts befragten Nebenkläger antworteten: "Wir schließen uns an." Die anderen Anwälte der Verteidigung antworteten: "Wir geben keine Erklärung ab." Das müsste dann eigentlich heißen, dass sie auch die Erklärung ihres Verteidiger-Kollegen nicht "abgeben" - aber vielleicht bin ich doch nur zu logisch...

Bei der nächsten Verhandlung wurde vom Richter - nicht nur aus akustischen Gründen für die Zuhörer unverständlich - der Antrag des Staatsanwaltes abgelehnt. Dennoch sieht es so aus, als würden nun endlich Prof. Kraus und Prof. Rettenmeier als Sachverständige vernommen werden können - und zwar am 19. März ab 9:30 Uhr im Landgericht Dortmund, Raum 130, doch wer weiß schon, was der Verteidigung bis dahin noch so alles einfällt...

Der WDR hat übrigens im November 2011 einen sehr eindrucksvollen Dokumentarfilm über Envio und den PCB-Skandal in Dortmund gesendet und eine aktualisierte Fassung im Juli 2012. Man kann sich die (neue) Fassung bei YouTube ansehen, aber auch auf der Homepage des WDR unter folgendem Link:

http://www.wdr.re/tv/diestory/sendungsbeitrag/2012/0730/envio.jsp

Wir möchten noch hinweisen auf die "Bürgerinitiativ für die Aufklärung des PCB-Skandals in Dortmund." Über ihre Arbeit kann an sich im Internet informieren unter dem Link:

www.pcb-skandal.de (=genau hier... Anmerkung)

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6 (3-2013)

Weiterer Zwischenbericht vom Envio-Skandal Dortmund:

Untersuchungsergebnisse der TH Aachen beweisen die PCB-Belastung der Beschäftigten

"...zum Beispiel die erhöhten Leberwerte, die lassen sich mit höchst ungesundem Lebensumständen der untersuchten Personen erklären, lassen sich plausibel und ganz einfach erklären, aber keinesfalls durch PCB." So der wortführende Anwalt Neuhaus des Hauptangeklagten Neupert bei der Verfahrenseröffnung am 9. Mai vorigen Jahres. Er führte dann weiter aus, dass es keinen gesicherten Nachweis und nicht einmal eine statistische Erhöhung gäbe (für PCB).

Nun gestehen wir Herrn Neuhaus natürlich das Recht zu, wissenschaftlich zweifelsfreie Erkenntnisse über die Wirkungen der zum "Dreckigen Dutzend" gezählten - den 12 giftigsten Stoffen - zu forden. Nur sollte er denAnsprüchen, die er an andere stellt, auch selber entsprechen. Für die oben gemachte Unterstellung angeblicher ungesunder Lebensumstände - eine Aussage, die wohl von jedem Medium in Deutschland zitiert wurde und die für große Empörung sorgte - haben seit Prozessbeginn weder Herr Neuhaus noch seine Verteidiger-Kollegen und -Kolleginnen einen Beweis erbracht. Im Gegenteil - jemand, der hierüber wissenschaftlich fundierte Aussagen machen kann, sollte von der Verteidigung unbedingt daran gehindert werden, seine Untersuchungsergebnisse dem Gericht vorzulegen: Prof. Kraus von der Technischen Hochschule Aachen, der seit langem im Auftrag der Stadt Dortmund und der Bezirksregierung Arnsberg zahlreiche PCB-Geschädigte der Firma Envio und ihrer Umgebung medizinisch "begleitet".

Doch gegen diesen Sachverständigen führte die Verteidigung einen monatelangen Ablehnungskampf wegen angeblicher Befangenheit, den Mann - hätten ihn Frauen geführt - als "Zickenkrieg" bezeichnet hätte. Sie hatte hierbei insofern Erfolg, als es ihr gelang, Aussagen von Prof. Kraus monatelang zu verschleppen, und sie erreichte außerdem, dass er nur als "Sachverständiger Zeuge" aussagen durfte. Der Richter erklärte diesen Begriff sinngemäß so: "Einen Sachverständigen kann man austauschen, einen Zeugen nicht."

Am 19. Januar durfte der "sachverständige Zeuge" dann endlich aussagen, allerdings nur als Zeuge; d.h., er durfte für eine Reihe seiner Patienten die auf den Personalbögen eingetragenen Ergebnisse vorlesen, aber ihre Bedeutung nicht erklären. Jedes etwa 14jährige Schulkind hätte das auch gekonnt, es wäre vielleicht bei dem ein oder anderen Fachbegriff mal ins Stocken gekommen, aber es hätte den "Zeugen" ersetzen können...

Der "Zickenkrieg" ging übrigens auch an diesem Termin weiter. Prof. Kraus bat das Gericht, ihm seine Unterlagen auszuhändigen, damit er die Ergebnisse vortragen könne. Darob war das Gericht sehr erstaunt, es war der Ansicht, Prof. Kraus seien die Unterlagen zurückgegeben worden. Der Staatsanwalt erklärte sich bereit, seine Unterlagen-Kopien zur Verfügung zu stellen - das rief den Protest der Verteidigung hervor, denn der Staatsanwalt hat da bestimmt Sachen unterstrichen oder etwas an den Rand geschrieben - das beeinflusst doch dann die Meinung des Zeugen. Dem Einspruch wurde - wen überrascht es ? - stattgegeben. Und dann fanden sich - welch Wunder - die Unterlagen tatsächlich in den Räumen des Landgerichts wieder und es gab keine Gründe für weitere Verzögerungen mehr. Jetzt geht's lo-hos!

Es kamen nun die Untersuchungsergebnisse von etwa 12 Patienten zur Sprache und, obwohl sie Prof. Kraus nicht deuten durfte, waren sie für den Zuhörer letztlich eindeutig und unseren Lesern hat das Gericht kein Denkverbot auferlegt.

Eins vorweg: der angebliche "höchst ungesunde Lebensstil" bestand ausschließlich im Verbrauch von 10 (bei einem Untersuchten 20) Zigaretten pro Tag - das haut natürlich auf Leber, Niere, Schilddrüse usw...

Von den zahlreichen vorgetragenen Fakten nennen wir nur einige: Hautschäden, Schweißausbrüche, Reizbarkeit, niedrige Testosteron-Werte (Sexual-Hormon) - alles Erscheinungen, die auch andere Ursachen als PCB haben können. Es gab aber auch anderes: etwa die Hälfte der Untersuchten berichtete über rauschähnliche Schwindelgefühle, die an den Wochenenden und im Urlaub nicht auftraten (Halt! Denkverbot!).

Zunächst falsche Hoffnungen in Bezug auf die Gesundheit der Betroffenen erweckten bei den Zuhörern die bei jedem der besprochenen Patienten erstaunlich niedrigen Blutwerte für die untersuchten PCB-Verbindungen - sie lagen im "unbedenklichen Bereich" weit unter den gesetzlich festgelegten Schwellenwerten und man musste als Zuhörer befürchten, dass hier sich ein Schlupfloch für Neupert und die drei anderen Angeklagten auftat; diese falsche Hoffnung bzw. Befürchtung wurde noch verstärkt dadurch, dass die neueren Messergebnisse deutlich unter den älteren lagen.

Dcch leider bedeutet das nicht, dass die Giftstoffe abgebaut oder ausgeschieden worden sind. Alle Verbindungen der PCB-Gruppe - man unterscheidet heute mindestens 209 verschiedene - sind künstlich hergestellt, d. h. es gibt so gut wie keine Organismen, die sie für ihren Stoff- oder Energiebedarf wieder abbauen. Alle PCB-Verbindungen sind in Wasser unlöslich, lösen sich aber in Fetten. Wenn nun im Blut der in Aachen untersuchten Patienten eine niedrigere PCB-Belastung festgestellt wird als früher, so liegt das daran, dass diese Verbindungen aus dem Blut in die Fettgewebe des Körpers eingedrungen sind und somit im Blut nicht mehr nachgewiesen werden können. In den Fettgeweben und Organen wie Leber, Niere und Schilddrüse reichern sie sich immer mehr an. Bei ihrem sehr langsamen Zerfall bzw. Abbau entstehen noch unzureichend bekannte Abbauprodukte, die allesamt schädlich sind, über deren genaue Schädlichkeit und den Zeitpunkt des Schadens man aber noch so gut wie nichts weiß. Das heißt, dass es aufgrund der niedrigen PCB-Werte im Blut für die Geschädigten leider keine Entwarnung geben kann.

Warum wurden die Untersuchungen dann am Blut durchgeführt? Nun, natürlich wären Untersuchungen an den Körperorganen besser, doch das geht verständlicherweise nicht so einfach. Den Patienten wurden bei den jeweiligen Untersuchungen 20, ja 27 verschiedene Blutproben entnommen - es leuchtet wohl jedem ein, dass man aus beispielsweise der Leber nicht einfach ein paar Stücke herausschneiden kann.

Aber etwas anderes ist nun klar bewiesen: die heute im Blut der ehemaligen Envio-Beschäftigten und der in der Nähe des Betriebes lebenden Menschen festgestellte niedrige PCB-Belastung ist nur zum geringen Teil auf Envio zurückzuführen, denn der Betrieb ist erfreulicherweise 2010 dicht gemacht worden. Von seinem hochgradig kontaminierten Gelände geht allerdings immer noch eine Gefahr aus, doch das meiste heute im Blut der Untersuchten gefundene PCB stammt aus denselben Quellen, aus denen jeder Mensch heute belastet wird. Die Tatsache, dass zu Beginn der Aachener Untersuchungen die Werte deutlich höher lagen als heute, beweist also eindeutig, dass das "frühere" PCB aus einer anderen, besonderen Quelle kam als aus der heutigen für alle gleichen Umweltbelastung. Mit der Schließung von Envio hat sich für die damals dort Beschäftigten und für die Anwohner etwas entscheidend geändert - und prompt sinkt die PCB-Belastung ihres Blutes... Damit ist unseres Erachtens die Beweiskette gegen Dirk Neupert und Mittäter geschlossen. Die "höchst ungesunden Lebensumstände" der ehemaligen Envio-Beschäftigten und der Anwohner sind bestätigt und deswegen sitzt Neupert dort, wo er zunächst hingehört: auf der Anklagebank.

Schon an früheren Verhandlungstagen hatten ehemalige Envio-Beschäftigte die vier Angeklagten als Zeugen stark belastet - ihre Aussagen wurden von der lokalen Presse mit Formulierungen wie "der Zeuge ... behauptet" dargestellt. Einer der Zeugen, ein ehemaliger Produktionsleiter, sagte aus, dass die Behörden bei angemeldeten (!) Kontrollgängen regelmäßig getäuscht worden seien. So seien PCB-Verseuchte Transformatoren, für die es keine Entsorgungsgenehmigung gab, so verändert worden, dass sie nicht mehr zu erkennen gewesen seien; Aufkleber mit dem Gift-Hinweis seien z.B. mit Farbe übersprüht worden. Auch seien im Hafengelände viel zu viele verseuchte Bleche gelagert worden, vor den angekündigten Kontrollen seien die dann versteckt worden.

Ein früherer Vorarbeiter sagte ebenfalls als Zeuge aus und belastete die vier Angeklagten schwer. Er hatte mit heimlich gemachten Photos und Informationen an die Grünen und an die Presse den Skandal um Envio ins Rollen gebracht und wurde natürlich als Störer des Betrebsfriedens angesehen; man warf ihm vor, er habe auf eigene Rechnung Schrott verkauft, das Verfahren wurde jedoch eingestellt; ihm wurde aber dennoch im Jahr 2008 gekündigt - seine jetzigen Aussagen gegen Envio werten einige Journalisten - ihrem geistigen und ideologischen Niveau entsprechend - als Racheakt...

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7 (4-2013) Da waren es nur noch drei...

Zwischenbericht vom Envio-Prozess in Dortmund

Seit mehr als einem Jahr läuft nun der Prozess gegen vier Angeklagte in - wie es auch in den bürgerlichen Medien heißt - einem der größten Umwelt-Skandale Deutschlands, dem PCB-Skandal. Die Entsorgungsfirma Envio machte in Dortmund - bis der Betrieb stillgelegt werden musste - Profite mit dem Recycling, der Wiederverwertung von z.B. in Transformatoren enthaltenen Rohstoffen, vor allem von Kupfer. Den Angeklagten werden zahlreiche Verstöße gegen z.B. von der Bezirksregierung Arnsberg erteilte Umwelt- und Gesundheitsauflagen und Körperverletzung in 51 Fällen vorgeworfen - so viele ehemalige Envio-Beschäftigte haben Klage eingereicht bzw. sich als Nebenkläger der Klageerhebung angeschlossen. Die tatsächlishe Zahl der durch PCB geschädigten Opfer ist viel höher. Die Bezirksregierung Arnsberg hat es den Angeklagten allerdings - gelinde gesagt - leicht gemacht, denn eine Überprüfung, ob der Betrieb die Auflagen auch einhielt, fand selten statt und wurde immer rechtzeitig angekündigt, sodass nicht nur der Kaffee für die "Prüfer" schon bereit stand, als diese eintrafen... Begünstigung im Amt? Ein gegen die Bezirksregierung eingeleitetes Verfahren wurde jedenfalks nie eröffnet...

Die vier Angeklagten spielen nicht im selben Golfclub, sie gehen auch nicht gemeinsam in einem Nobelrestaurant essen - sie gehören zwei verschiedenen Gesellschaftsschichten an. Es handelt sich um den früheren Geschäftsführer Dirk Neupert (der übrigens in Südkorea genau so weitermachen soll, wie es ihm in Dortmund endlich verboten wurde), um zwei ehemalige Mitarbeiter aus der "Führungsebene" und um einen ehemaligen Betriebsleiter. Der saß bisher mit den anderen drei nur deshalb gemeinsam auf einer Bank, weil sie die Anklage vereinte, sonst nichts.

Unsere Vermutung ging daher von Anfang an davon aus, dass die Gemeinsamkeiten zwischen ihnen zeitlich begrenzt sind. Wenn es hart auf hart gehen würde und die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft durch die vernommenen Zeugen immer erdrückender bestätigt würden, dann würde es mit der Einheit der vier vorbei sein - die drei "aus dem Krawattenbunker", wie es die Rheinhausener Stahlarbeiter früher ausdrückten, würden ihren nicht gesellschaftsfähigen Kumpan dann fallen lassen und ihn für alle möglichen nachgewiesenen Verstöße verantwortlich machen.

Das scheint sich nun zu bewahrheiten. In der Verhandlung am 18. Juni kam es zu einer Einstellung des Verfahrens gegen den ehemaligen Betriebsleiter nach Zahlung eines Bußgeldes von 3000 Euro. Der nunmehr ausgeschiedene ehemalige Angeklagte hatte zuvor zugegeben, einmal PCB-belastetes Blech ohne Genehmigung entsorgt zu haben. Mit der Einstellung des Verfahrens gegen ihn sind nach Zahlung des Bußgeldes "seine möglichen Verfehlungen im Zusammenhang mit dem PCB-Skandal vom Frühjahr 2010 ausreichend gesühnt" - sagten den Ruhrnachrichten vom 19.6.13 zufolge "alle Beteiligten", also auch Staatsanwaltschaft und Nebenkläger.

Die 3000 Euro lieferte der jetzt ehemalige Angeklagte noch am selben Tag vor 12 Uhr ab. Bösartige Menschen stellen jetzt vielleicht verschiedene Fragen: Hatte der ehemalige Betriebsleiter etwa "zufällig" 3000 € in der Hosentasche? Wusste er etwa schon vorher, was an diesem Gerichtstermin über ihn beschlossen werden würde? Von welchem Konto stammen diese Euros? Aber wir sind ja keine bösartigen Menschen...

Dieser Verlauf des Prozesses scheint unsere oben geschilderten Erwartungen zu bestätigen. Den übrig gebliebenen drei Angeklagten "aus dem Krawattenbunker" bietet sich nun noch deutlicher die Möglichkeit, alle unwiderlegbaren Verstöße ihrem ehemaligen Mitangeklagten in die Schuhe zu schieben. Der hat dann sicherlich ohne ihr Wissen gehandelt, hinter ihrem Rücken, ihr Vertrauen missbraucht usw.; passieren kann ihm ja nichts mehr, denn er ist raus, und Staatsanwaltschaft und Nebenklage haben dem zugestimmt.

Nun können wir nur hoffen, dass die übrig gebliebenen Angeklagten bzw. ihre Verteidigung nicht Leser von AZ sind. Sonst müssten wir uns den Vorwurf gefallen lassen, ihnen einen guten Tipp gegeben zu haben...

 

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8 (5-2013) Zum PCB-Skandal in Dortmund:

Blutwäsche - wenig Hoffnung für die Envio-Geschädigten

Der seit fast eineinhalb Jahren laufende Prozess gegen Dirk Neupert und noch zwei weitere Angeklagte - ein vierter hat sich inzwischen für 3000 Euro freigekauft - macht bis etwa Ende August "Sommerpause". Hier gibt es also nichts Neues zu berichten. Das gibt uns Gelegenheit, einmal auf das Schiksal der Geschädigten etwas näher einzugehen.

PCB ist ein Sammelbegriff für eine Stoffgruppe von mindestens 209 verschiedenen künstlich hergestellten chemischen Verbindungen, für die es - da sie künstlich sind - in der Natur so gut wie keine Organismen gibt, die sie wieder abbauen. Die PCBs wurden früher in der Bauindustrie, aber auch z.B. bei Transformatoren häufig benutzt, bis man ihre Gefährlichkeit für die menschliche Gesundheit erkannte. Sie zählen heute zum "dreckigen Dutzend", den 12 giftigsten Stoffgruppen auf der Erde. Ihre Verwendung ist seit langem weltweit verboten.

Aus der Aufarbeitung, dem Recycling der wertvollen Rohstoffe alter Transformatoren, lässt sich ein enormer Profit erzielen, allerdings mit erheblichen Gesundheitsrisiken für die damit Beschäftigten. Die Wiederaufbereitung ist daher nur unter strengsten Auflagen zulässig. Gegen zahlreiche dieser Auflagen verstoßen zu haben, wird der Leitung der 2010 stillgelegten Firma Envio vorgeworfen. Allerdings lautet die Anklage sinngemäß auf "Körperverletzung in Tateinheit mit Verstößen gegen..."; das bedeutet, dass zunächst die Körperverletzung nachgewiesen werden muss, was wissenschaftlich sehr schwer ist.

Die PCBs bewirken eine ganze Reihe von gesundheitlichen Schäden, die jedoch auch durch andere Ursachen hervorgerufen worden sein können. Die einzige Krankheit, die sich eindeutig auf PCB zurückführen läßt, ist Chlor-Akne, eine Hauterkrankung.

Seit mehr als drei Jahren werden an der Uniklinik Aachen zahlreiche ehemals bei Envio- Beschäftigte und auch geschädigte Dortmunder untersucht. Prof. Thomas Kraus und sein Team haben bei der Untersuchung der PCB-Belastung ihres Blutes festgestellt, dass die Werte im Blut der Geschädigten heute viel niedriger sind als zu Beginn der Untersuchungen. Das hat verständlicherweise zu einer Erleichterung bei den betroffenen Menschen geführt, doch die ist leider nicht berechtigt.

Alle PCB-Verbindungen sind wasserunlöslich, aber fettlöslich. Sie werden mit der Nahrung aufgenommen oder gelangen über die Haut oder mit der eingeatmeten Luft in den menschlichen Körper. Dort gelangen sie in das Blut, bleiben dort aber nicht, sondern gelangen in fetthaltige Gewebe und Organe und reichern sich dort an. Die heute gemessenen niedrigen Werte bei den Envio-Opfern bedeuten nicht, dass die PCBs abgebaut oder gar ausgeschieden wurden, sondern dass sie jetzt im Körperfett sind. Dort zerfallen sie bzw. werden sie abgebaut in offenbar jahrzehntelangen Prozessen zu Abbauprodukten, deren Auswirkungen noch weitgehend unbekannt sind. Die PCB-Opfer leben daher in einer beständigen Angst und jede noch so kleine negative gesundheitliche Erscheinung könnte der Beginn sein von...

Als Hoffnung für sie wird von einer Reihe von Medizinern und Heilpraktikern die Blutwäsche dargestellt. Dabei wird der Patient an ein Gerät angeschlossen, das gewissermaßen seinen Blutkreislauf erweitert. Der Umweltmediziner Dr. Christian Hoffmann führt diese Blutwäsche in Dortmund durch. Dabei werden dem Patienten in einem etwa eineinhalbstündigen Verfahren etwa 4 Liter Blut entnommen; die angeschlossene Maschine "reinigt" das Blut, d.h. konkret, dass ihm 30-40 Prozent der in ihm enthaltenen PBC-Verbindungen entzogen werden - danach wird das "gereinigte" Blut wieder dem Körperkreislauf zugeführt und es befinden sich jetzt nur noch (!) 60-70 Prozent im Blut...

Das sind zugegebenermaßen weniger als vorher, doch das ist leider nicht alles. Erneute Messungen sowohl von Dr. Hoffmann in Dortmund als auch von Prof. Kraus in Aachen haben ergeben, dass bereits nach einer Woche die Blutwerte wieder dieselben sind wie vor Beginn der Prozedur. Ein Dortmunder Patient, der 3 Jahre lang als Leiharbeiter bei Envio gearbeitet hat, hat diese Blutwäsche bereits zehnmal bei sich durchführen lassen - seine Blutwerte sind jedesmal nach einer Woche wieder auf dem alten Stand.

"Einige Umweltmediziner und manche Heilpraktiker (haben) behauptet, dass sie damit die PCBs in kurzer Zeit komplett aus dem Körper entfernen können. Wir haben bei hochbelasteten fünf Personen dieses Verfahren erprobt und mussten leider feststellen, dass sich unsere Befürchtungen bestätigen, nämlich dass es zwar eine kurzfristig funktionierende Methode darstellt, aber schon nach einer Woche praktisch das PCB, das im Gewebe gespeichert ist, wieder ins Blut zurückfließt und damit fast die Ausgangssituation wieder erreicht wird," sagte Prof. Kraus in einem Interview in der "Aktuellen Stunde" des WDR.

Das ist nicht verwunderlich. Man kann sich vorstellen, dass sich eine Art Gleichgewicht einstellt zwischen dem PCB im Blut und dem im Gewebe. Entzieht man nun dem Blut einen Teil des PCBs, so wird dieses Gleichgewicht gestört und PCB gewissermaßen aus dem Fettgewebe ins Blut gesaugt, um das Gleichgewicht wieder herzustellen. Es wird befürchtet, dass - um so das PCB fast vollständige aus dem Körper zu entfernen - hunterte Blutwäschen über viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinweg notwendig sind.

Selbst wenn diese Erklärung nicht zutrifft, gibt es eine andere auf jeden Fall zutreffende: Fette sind Stoffe, die der Körper als Energiereserven speichert. Bei Energiebedarf werden sie abgebaut und ihre energiereichen Bausteine über das Blut zu den Organen gebracht, die die Energie benötigen..Und in diesen Fettgeweben sind auch die PCBs...

Die wissenschaftlichen Arbeiten an der Uniklinik Aachen haben ergeben, dass die PCB-Belastung des Blutes bei den untersuchten Personen heute wesentlich niedriger ist als zu der Zeit, als sie bei Envio den Profit für Herrn Neupert und Co schufen. Th. Schettgen und Mitarbeiter (in: Journal of Toxicology and Environmental Health, Vol. 75, 2012) haben die Häufigkeit der PCB-Belastung der bei Envio-Beschäftigten untersucht und sie verglichen mit der Belastung ihrer Familienmitglieder, der der in Nachbarbetrieben Arbeitenden und der Anwohner; sie haben die Daten verglichen mit den Blutwerten "normaler" Menschen als Kontrollgruppe; sie stellten dabei fest, dass 80 % der Envio-Beschäftigten deutlich höhere Blutwerte aufwiesen, sie fanden bei den Familienmitgliedern sogar 85 %; bei den Beschäftigten der Nachbarbetriebe waren es noch fast 28 %, bei den Anwohnern nur 2,4 % - d.h. je näher die betreffenden Personen dem Envio-Gelände waren, vor allem der Halle 1, desto mehr von ihnen waren höher belastet. Das bestätigt die Aachener Ergebnisse. Dabei ist hier nur von der Zahl der betroffenen Personen die Rede, nicht vom Grad ihrer Belastung. Die häufigere Belastung der Familienangehörigen lässt sich möglicherweise dadurch erklären, dass die in Halle 1 Beschäftigten wenigstens eine provisorische Schutzkleidung hatten, die Verwandten, die die Arbeitskleidung zuhause wuschen, jedoch nicht.

Etwa 50 Envio-Geschädigte haben bisher (Stand Juli 2013) den Antrag gestellt, ihre Erkrankung als berufsbedingt anzuerkennen - nur drei von ihnen hatten Erfolg; in ihrem positiven Bescheid ist allerdings nicht vom PCB bei Envio die Rede... Prof. Kraus sieht eine Ursache darin, "dass die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse, die in den letzten Jahren erreicht wurden..., noch nicht in der naturwissenschaftlichen Literatur zu finden sind, sodass einige Gutachter dann immer noch urteilen auf einem Wissensstand von 1965 oder 1970." Das spielt sicherlich eine Rolle, doch da es hier auch um die Profitmaximierung geht, sehen wir die Ursache zumindest auch woanders.

Wir haben es oben angedeutet: die schädlichen Auswirkungen der PCBs ist vielfältig. Ein häufig bei Opfern auftretendes Verhalten, das Wissenschaftler auf PCB zurückführen, ist übersteigerte Reizbarkeit der belasteten Personen. Es ist nun soweit gekommen, dass zumindest eine Ehe durch das Profitstreben der Neuperts in die Brüche gegangen ist. Die Ehe ist - so versucht man uns beizubringen - heilig und die Keimzelle "unserer" Gesellschaft. Doch wir haben keinen Zweifel: wenn diese Keimzellen-Propagandisten vor die Alternative gestellt werden, sich entweder für die Ehe zu entscheiden oder für den Profit, dann wählen sie den Profit.

Und noch etwas: Das von den Neuperts hochgradig kontaminierte Envio-Werksgelände muss kostspielig saniert werden, bevor es anderweitig profitabel genutzt werden kann. Das muss natürlich bezahlt werden - die Neuperts und die Stadt Dortmund streiten sich auch darum. Der WDR hat da schon eine Vermutung, wer da letztlich zur Kasse gebeten werden wird: der Steuerzahler. Zu diesen Steuerzahlern gehören übrigens auch die Envio-Opfer. Die dürfen dann für die Profitjäger nicht nur mit ihrer Gesundheit zahlen...

 

"Kollegen, das ist Euer tägliches Brot,

es fragt sich, wie lange Ihr mitmacht.

Das Gesindel braucht Euch so lange bloß,

so lange Ihr ihnen den Profit macht.

...

Doch wenn Ihr endlich zusammensteht,

dann wird das Obere nach unten gedreht..."

(aus: Erich Weinert, Lied der Rationalisierung, 1930)

 

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9 (6-2013) Envio-PCB-Skandal in Dortmund:

Was bleibt, ist die Angst

„Unsere Kompetenz liegt darin, schnell auf der ganzen Welt eingreifen zu können, um die Umwelt und die Menschen dort zu schützen.“

Das ist nicht etwa eine Drohung der US-Regierung oder der NATO, sondern eine Behauptung des Firmen-Chefs Dirk Neupert in einem früheren Werbespot des Recycling-Unternehmens Envio. Inzwischen sitzt er seit etwa 18 Monaten als einer der Hauptangeklagten auf der Anklagebank des Landgerichts in Dortmund. Vorgeworfen wrd ihm – nicht vom Landgericht – die Vergiftung von etwa 360 (andere Quellen nennen eine weit größere Zahl) Menschen aus Profitsucht. Den Profit machte er bis zur Schließung des Betriebes 2010 durch das Ausschlachten z.B. alter Transformatoren, deren Kupferinhalt auf dem Weltmarkt hohe Preise brachte und bringt, die aber auch hochgiftige PCB-Verbindungen enthalten – AZ hat bereits mehrfach darüber berichtet. In Dortmund darf er nicht mehr „ausschlachten“, das soll er jetzt in Südkorea machen...

Etwa 200 der Geschädigten nahmen am inzwischen leider beendeten Betreuungsprogramm des Arbeitsmediziners Prof. Thomas Kraus an der TU Aachen teil. Unter ihnen eine Reihe ehemaliger Envio-Leiharbeiter, aber auch Familienangehörige und Menschen, die auf dem Weg zu und von ihrem Arbeitsplatz täglich einfach nur durch das Gelände in der Nähe des Skandalbetriebs radelten. Das allein reichte bei einem von ihnen aus, den PCB-Gehalt in seinem Blut auf das Dreifache ansteigen zu lassen...

Prof. Kraus hat bereits bei einer früheren Anhörung als „Sachverständiger Zeuge“ anhand seiner Untersuchungsergebnisse aufzeigen können, dass die Blutwerte der von ihm untersuchten Leiharbeiter in ihrer Zeit als Envio-Beschäftigte deutlich über den Werten lagen, die nach der Stilllegung des Betriebes bei ihnen gemessen wurden. Eine Entwarnug ist das für sie nicht, denn das PCB ist nicht etwa abgebaut oder ausgeschieden worden, sondern hat sich im Körperfett angereichert, und das für Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. Dort zerfallen die PCBs (insgesamt kennt man bisher 209 verschiedene Verbindungen, alle künstlich hergestellt und daher dem natürlichen Abbauprozeß entzogen) mit unterschiedlichen Halbwertszeiten in bisher weitgehend unbekannte Abbauprodukte. Deren Auswirkungen sind ebenfalls weitgehend unbekannt.

Prof . Kraus hat nun vor dem Landgericht – die Verteidigung konnte es offnbar nicht verhindern – die Ergebnisse seiner medizinischen Untersuchungen dargelegt. Er sieht eindeutige Auswirkungen der PCB-Belastung auf Schilddrüsenhormone, einzelne geschlechtsspezifische Hormone, Veränderungen an der Haut, Auffälligkeiten in der Leberfunktion, gehäufte Veränderungen im Nervensystem, und zwar sowohl im zentralen Nervensystem als auch im peripheren ( = äußeren) Nervensystem. Er stellt bei vielen seiner Patienten auch eine tiefe Verunsicherung beim Blick in die Zukunft fest, die zu Depressionen führt. Er sieht „erhebliche Sorgen und Ängste, ob vielleicht zukünftige ernstere Erkrankungen auftreten“ und fragt „ob mit dem Abfall der immensen inneren Belastungen sich viellecht bei vielen eine Besserung ergibt.“ (in einem WDR-Interview)

Seine Untersuchungsergebnisse werden z.Z. von dem Essener Arbeitsmediziner Albert Rettenmeier „gegengelesen“ – er wird etwa im Dezember ebenfalls vom Landgericht als Zeuge vernommen werden. Doch die Untersuchungen von Prof. Kraus haben schon bewiesen, dass die Blutwerte der Opfer während ihrer Zeit bei Envio höher lagen als heute, dass sie das PCB also in jener Zeit vermehrt aufgenommen haben.

Doch nicht nur hier ergibt sich wieder ein Schlupfloch für die Angeklagten. Es verstärkt sich in letzter Zeit immer mehr der „50-Prozent-Verdacht“, die Befürchtung nämlich, dass Envio nicht die einzige PCB-Dreckschleuder im Dortmunder Hafengebiet ist. Denn auch heute noch – mehr als drei Jahre nach der Schließung – werden „erstaunlich“ hohe PCB-Werte in diesem Dortmunder Viertel gemessen. Woher kommen sie? Können etwa andere Betriebe einfach weitermachen, um das Image des „Industriestandortes Dortmund“ nicht zu gefährden? Und. wie können wir nachweisen, dass unser oben erwähnter Radfahrer sich seine PCB-Belastung auf der Vorbeifahrt bei Envio geholt hat und nicht bei einem anderen „umweltfreundlichen“ Betrieb?

Im September 2008 versicherte Firmenchef Neupert der „Behörde“, der Bezirksregierung Arnsberg schriftlich: „Eine Gefährdung der Mitarbeiter beim Versuchsbetrieb und beim späteren Normalbetrieb können wir daher sicher ausschließen.“

Michael Müller, PCB-Gutachter der UN, sah das nach ihm vorgelegten optischen Beweismaterial anders: „Die Prozessabläufe waren so dilettantisch, dass man hier wirklich nur mit Vollschutz hätte arbeiten dürfen.“

Der wurde den insgesamt 8 bei Envio Vollbeschäftigten auch zur Verfügung gestellt. Die anderen – allesamt Leiharbeiter – bekamen als Atemschutz z.B. „bessere Papiertücher“. „Um Atemschutzmasken musste man betteln und wenn man dann mal gefragt hat, ob man so eine haben kann – wofür man das denn bräuchte, das wäre ja alles gar nicht so schlimm,“ so einer der geschädigten Leiharbeiter. „Wenn mal meine Schweißhandschuhe durchlöchert waren, hieß es nur, ich solle besser darauf aufpassen, weil die Dinger teuer sind.“

Uns drängt sich ein Verdacht auf: für „seine“ 8 Vollbeschäftigten hat Neupert offenbar gesorgt, ihnen hat er die gesetzlich vorgeschriebene Schutzkleidung zur Verfügung gestellt, „obwohl die Dinger teuer sind.“ Anders sieht es da bei den Leiharbeitern aus – die sollten ihre Schutzkleidung offenbar selber mitbringen, für 7,50 € Stundenlohn, und das, „weil die Dinger teuer sind.“ Denn die Leiharbeitsfirma hat ihre Billiglohnarbeiter zwar an Envio vermittelt, sie aber auch nicht mit der notwendigen Schutzkleidung ausgerüstet, „weil die Dinger teuer sind“, teurer jedenfalls als die Gesundheit und das Leben von Arbeitern...

Den Opfern bleibt zu wünschen, dass ihnen die materiellen Existenzsorgen genommen werden, was hoffentlich psychisch zu ihrer Beruhigung und damit zur Stärkung ihrer körperlichen Widerstandskraft beiträgt. Dazu würde aber sicherlich auch eine gerechte Strafe der Profiteure beitragen, doch da fälllt uns die wissenschaftliche begründete Feststellung von Karl Marx ein: „Die herrschenden Gesetze sind die Gesetze der Herrschenden.“

Von den Untersuchungen des Prof. Kraus und den Auswertungen von Prof. Rettenmeier fordert das Gricht und erhoffen sich nicht nur die Nebenkläger „einen eindeutigen wissenschaftlichen Nachweis, dass die Männer von PCB in ihrem Blut krank wurden und durch nichts anderes... In jedem Einzelfall muss nachgewiesen werden, dass durch die PCB-Belastung Krankheitszustände (verursacht), also eine Körperverletzung begangen worden ist,“ so Rechtsanwalt Quittmann.

 

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10 (1-2014)

PCB – nicht nur für Dortmund ein Problem

Die zum „dreckigen Dutzend“ der gefährlichsten chemischen Verbindungen zählenden PCB-Verbindungen sind nicht nur für Dortmund ein Problem. Im Zusammenhang mit dem Prozess gegen die vor Jahren stillgelegte Recycling-Firma Envio hat AZ bereits mehrfach berichtet.

Der im Mai 2012 begonnene Prozess gegen Dirk Neupert, den Haupteigner der Firma, und weitere Angeklagte war zunächst mit etwa 20 Terminen nur bis Ende August 2012 geplant und sollte eigentlich jetzt im Januar 2014 beendet werden – doch nun hängen im Landgericht Dortmund schon Prozesstermine bis Mitte 2014 aus... und läuft und läuft und läuft...

Im Jahr 2010 – dem Jahr der Envio-Schließung – wurde für die bei Envio Beschäftigten (vor allem Leiharbeiter) ein dreijähriges Betreuungsprogramm begonnen, mit dem die Beschäftigten „medizinisch begleitet“ wurden. Finanzier wurde es von der Berufsgenossenschaft. Die zahlte jedoch nicht für Familienangehörige, auch nicht für in der Umgebung von Envio lebende oder arbeitende Menschen. Die „Begleitung“ schloss nur Untersuchungen ein, aber keine Behandlung. Allerdings erhielten die Envio-Opfer von Prof. Kraus (TU Aachen) durchaus auch psychologischen Betreuung. Das eigentlich schon beendete Programm wurde jetzt erfreulicherweise für weitere drei Jahre verlängert – unerfreulich ist der Anlass: die deutliche Zunahme von Schilddrüsen-, Haut- und anderen Schäden bei den Betroffenen.

Inzwischen bereitet man sich in Dortmund auch darauf vor, die auf dem Envio-Gelände noch lagernden Materialien „für die Insolvenz-Kasse“ zu vermarkten. Dazu wird es demnächst zu den gesetzlich vorgeschriebenen öffentlichen Ausschreibungen kommen. Allerdings gibt es einige Probleme – wir nenn nur eins: Auf dem Gelände sollen Transformatoren sein mit einem Eigengewicht von 50 Tonnen und mehr – die Kräne, die diese Ungetüme bewegen sollen, wiegen selber aber nur etwa 20 Tonnen. Aber was soll’s? „Dem Ingeniör ist nichts zu schwör!“

PCB wurde nicht nur für Transformatoren verwendet, sondern vor rund vierzig Jahren auch in der Bauindustrie eingesetzt. Wenn wir die Zahl richtig in Erinnerung haben, hat das Land NRW zu Beginn dieses Jahres etwa 5600 öffentliche Gebäude, die in dieser Zeit errichtet wurden, auf ihre heutigen PCB-Ausdünstungen untersuchen lassen und ist bei mehreren tausend „fündig“ geworden.

In Dortmund betrifft das einige Schulen, in anderen Städten sicherlich auch. An der Universität Düsseldorf musste eine ganze Anzahl von Räumen geschlossen werden wegen der PCB-Belastung, etliche Beschäftigze verloren dadurch ihre Arbeit. In Duisburg gibt es als Folge der Stahlproduktion für die Kleingärtner mehrerer Stadtteile „Verzehrsempfehlungen“, d.h. es wird ihnen geraten, was sie nicht verzehren sollen: z.B. kein Gemüse oder Obst, das in Bodennähe geerntet wird. In Leverkusen gibt es ähnliche Probleme – verursacht durch wen wohl? Nicht durch die Fußballspieler...

Die Universität Bochum, vor etwa 50 Jahren als architektonische Gruseltat aus dem Boden gestampft – hat ihre Mitarbeiter am 6.9.2013 durch ein Schreiben informiert, aus dem wir zitieren:

In den Gebäuden der Ruhr-Universität Bochum ist PCB in den 1960er und 1970er Jahren als Baustoff verwendet worden. PCB ist ein Gefahrstoff und durch verstärkte Raumluftmessunen und Materialproben in den Fakultätsgebäuden in den Fokus gerückt...

PCB wurde als Bauschadstoff in allen Fakultätsgebäuden (MA, N-Reihe, G-Reihe, I-Reihe, NI/NT, Bota) verbaut... In den Fakultätsgebäuden liegen die Werte in der Regel zwischen 300 ng und 3000 ng PCB/m3 Raumluft. Die PCB-Richtlinie NRW gibt für diese Räume folgendes vor:

Bei der Raumlufkonzentration zwischen 300 und 3000 ng PCB/m3 Luft ist die Quelle der Raumluftverunreinigung aufzuspüren und unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit mittelfristig zu beseitigen...“

...Zusätzlich wurden in einigen Räumen erhöhte Gehalte des dioxinähnlichen PCB-118 in der Raumluft nachgewiesen. Die Gehalte überschreiten den Wert von 10 ng/m3 Luft, bei dem von ... der Obersten Landesgesundheitsbehörde expositionsmindernde Maßnahmen gefordert werden. Räume, die Werte über 3000 ng PCB/m3 Raumluft (Interventionswert) aufweisen, werden der Nutzung entzogen, bis durch geeignete Maßnahme der Interventionswert wieder unterschritten wird.

Zu den gesundheitlichen Auswirkungen von PCB kann nur wenig gesagt werden. Aus Unfällen mit hochdotiertem PCB und Tierversuchen werden mögliche dosisabhängige Effekte auf Nervensystem, Immunsystem, Hormonhaushalt, Haut, Leber, Psyche und Krebsentwicklung vermutet. Es wurde 2012 von der DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft – Anm. AZ) eingestuft...“

Wir zitieren in diesem Zusammenhang den Leiter des Betreuungsprogramms für die Envio-Opfer, Herrn. Prof. Kraus von der TU Aachen:

Die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse, die in den letzten Jahren erreicht wurden und die wir auch im Betreuungsprogramm festgestellt haben, (sind) noch nicht in der nachlesbaren wissenschaftlichen Literatur zu finden, so dass einige Gutachter dann immer noch (urteilen) auf einem Wissensstand von 1965 oder 1970.“ (in einem Interview mit dem WDR)

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Die Dortmunder „Bürger-Initiative gegen den PCB-Skandal“ beabsichtigt, mit entsprechenden Gruppen in anderen Städten Kontakt aufzunehen zwecks Erfahrungsaustuasch und Zusammenarbeit.

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11 (4-2014) Zum PCB/Envio-Skandal in Dortmund:

Wissenschaft für die Menschen oder Menschen für die Wissenschaft?

Seine Aussagen waren mit Spannung erwartet worden – die des Sachverständigen der Universität Duisburg-Essen. Er sollte die Untersuchungsprotokolle auswerten, die Prof. Kraus von der Universität Aachen im Rahmen des ersten dreijährigen Betreuungsprogramms für die Envio-Opfer erstellt hatte. Denn Prof. Kraus war von der Verteidigung des der Körperverletzung zahlreicher Menschen und des Verstoßes gegen zahlreiche Auflagen der Bezirksregierung Arrnsberg angeklagten Envio-Chefs Neupter und zweier Mittäter als befangen abgelehnt worden – der Sachverständige aus Duisburg-Essen nicht. Warum der eine abgelehnt wurde und der andere nicht, wurde bald deutlich...

Vorweg etwas zur Vorgeschichte: Die Firma Envio machte ihren Reibach durch das Ausschlachten alter Transformatoren und anderer z.B. Kupfer enthaltender Geräte. Die enthielten jedoch nicht nur die wertvollen Metalle, sondern auch die zum „dreckigen Dutzend“ (den 12 giftigsten chemischen Stoffgruppen) zählenden PCB-Verbindungen. Eine für PCB typische Krankheit beim Menschen ist die Hautkrankheit Chlor-Akne; außerdem gibt es zahlreiche andere gesundheitsschädliche Auswirkungen, die allerdings auch andere Ursachen als eine Vergiftung durch PCB haben können und die oft erst nach vielen Jahren auftreten. AZ hat in früheren Ausgaben mehrfach hierüber berichtet.

Prof. Kraus aus Aachen durfte im Prozess nur als „sachverständiger Zeuge“ die von ihm und seinem Team beobachteten Daten vortragen – jede Interpretatio dieser Beobachtungsergebnisse war ihm untersagt. Damit wurde dafür der Sachverständige aus Duisburg-Essen beauftragt. Er war schon einmal kurz nach Prozessbeginn als Sachverständiger zum Thema PCB befragt worden und machte einen kundigen Eindruck. Seine erneute Befragung – diesmal zu den Untersuchungsprotokollen aus Aachen - war schon für den Herbst des vergangenen Jahres vorgesehen, wurde aber immer wieder verschoben. Etwa ein halbes Jahr später war es dann endlich so weit. Und nun wurde auch klar, warum die Verteidigung diesen Sachverständigen nicht abgelehnt hatte. Er präsentierte sich als reiner Wissenschaftler, für den die Menschen, deren Untersuchungsergebnisse aus Aachen ihm vorlagen, nur Lieferanten von Daten waren, die man dann auswerten kann oder auch nicht. Bei Herrn Prof. Kraus gewann man einen anderen Eindruck: er wurde in mehreren Fernsehinterviews nach dem Befinden der von ihm untersuchten Menschen gefragt und stellte immer wieder heraus, dass es einigen von ihnen jetzt besser gehe, denn (und nun kommt der Unterschied zum Duisburg-Essener Sachverständigen) sie hätten wieder Arbeit gefunden; für ihn ist ganz offenbar die soziale Lage ein wichtiger Faktor, der sich auf die Gesundheit und Psyche der Menschen auswirkt. Für den einen Wissenschaftler steht der Mensch im Vordergrund, für den anderen die Daten, die er liefert – der eine wird als „befangen“ abgelehnt, der andere nicht...

Wir wollen dem Duisburg-Essener Sachverständigen jedoch keine Böswilligkeit unterstellen, nur haben wir eine andere Auffassung von Wissenschaftlichkeit: sie sollte nicht neutral sein, sondern objektiv. Ist man neutral, so nimmt man nicht Stellung gegen den/die Täter und nicht für die Opfer; ist man jedoch objektiv, so nimmt Stellung gegen die Täter und für die Opfer. Man braucht nur an das Dritte Reich zu denken, dann wird dieser Unterschied ganz deutlich.

Zur Ehrenrettung des Duisburg-Essener Sachverständigen müssen wir sagen, das er es wesentlich schwerer hatte als sein Kollege aus Aachen. Ihm standen nur die Unterlagen von 29 Untersuchten zur Verfügung, die anderen hatten Prof. Kraus nicht von seiner ärztlichen Schweigepflicht entbunden. Wie schwer es daher war, gesicherte Aussagen zu machen, wird klar, wenn man sich z.B. folgendes überlegt: Teilt man diese 29 Personen z.B. ein in Altersgruppen von 21-30 usw. bis hin zu 51-65 Jahren, so ergibt sich, dass in jede dieser Gruppen nur wenige Personen kommen; unterteilt man eine solche Gruppe dann noch in Raucher und Nichtraucher, in Menschen mit und ohne Übergewicht usw., dann wird klar, dass in die jeweiligen Unter(unter)gruppen nur sehr wenige Personen kommen und dass man mit den so erzielten Daten wissenschaftlich gesichert kaum etwas anfangen kann.

Prof. Kraus hatte (erfreulicherweise und leider!) mehr Patienten zur Verfügung. Er ging allerdings auch anders an die Untersuchung heran. Aus den von ihm dem Gericht vorgetragenen Meßergebnissen ging eindeutig hervor, dass bei allen Untersuchten die PCB-Belastung des Blutes zu Beginn des ersten Betreuungsprogramms (kurz nach der Envio-Schließung) deutlich höher waren als gegen Ende des Programms etwa 3 Jahre später. Damit ist Envio als Ursache für die Blutbelastung eindeutig festzumachen.

Aus Duisburg-Essen gibt es ein mindestens 70 Seiten umfassendes Gutachten zu den Daten der 29 Personen. Zu diesem Gutachten gab es von Seiten des Staatsanwaltes und der Nebenkläger zahlreiche Nachfragen, merkwürdigerweise keine von der Verteidigung. Und bei den Antworten des Duisburg-Essener Sachverständigen kamen zumindest dem Zuhörer im Gerichtssaal Zweifel daran, ob dieser Sachverständige die hohen wissenschaftlichen Ansprüche, die er an andere stellt, auch an sich selbst stellt. So zeigte sich, dass er an mehreren in letzter Zeit zum Thema PCB durchgeführte Konferenzen nicht teilgenommen hatte und deren z.B. im Internet veröffentlichten Beiträge und Ergebnisse nicht kannte. Ein inzwischen eindeutiger Chlor-Akne-Fall eines ehemaligen Envio-Beschäftigten war ihm offenbar unbekannt – der gehörte allerdings nicht zu den 29. In seinem eigenen Gutachten hatte er die PCB-Verbindungen missverständlich sogar als das Immunsystem aktivierend dargestellt, was zumindest im ersten Augenblick als positiv erscheint, denn ein aktives Immunsystem ist doch gut. Auf Nachfrage stellte er das dann klar: das Immunsystem kann auch fehlgeleitet aktiv werden und Antikörper gegen nützliche Körperzellen produziern. Gefragt wurde er auch, ob die PCB-Verbindungen und das ebenfalls schädliche, bei Envio verwendete Lösungsmittel Per (Perchlorethylen) nebeneinander wirkten oder miteinander und sich dabei dann eventuell gegenseitig verstärkten; diese Frage wusste er wissenschaftlich nicht zu beantworten, nahm aber an (!), sie wirkten nebeneinander, was den Angeklagten sicherlich recht ist. Er wurde auch gefragt, ob die in Aachen bei den Untersuchten festgestellten psychischen Schäden nicht auf das PCB zurückzuführen seien. Das verneinte er und machte dafür auch die Medienberichterstattung mitverantwortlich, die PCB als „Ultragift“ dargestellt habe. Uns war diese Bezeichnung für PCB bis dahin unbekannt; er nannte auch keine Quellen und keine Medien, die seine 29 untersuchten Personen als Informatinsquellen haben.

Der Sachverständige konnte den ihm vorgelegten Unterlagen der 29 Envio-Opfer keine wissenschaftlich gesichterten Aussagen über die Schadensquelle entnehmen. Schilddrüsenschädigungen und Übergewicht gibt es ja auch bei zahlreichen anderen Menschen. Nicht so kritisch war da die Berufsgenossenschaft: die Auffälligkeiten an der Schilddrüse der in Aachen Untersuchten waren für sie Grund genug, das Betreuungsprogramm um weitere drei Jahre zu verlängern. Allerdings werden hierbei die Menschen nur „wissenschaftlich begleitet“, es gibt keine medizinische Behandlung.

Übrigens: wir unterstellen diesem Sachverständigen keine böse Absciht, weswegen wir seinen Namen auch nicht nennen, er hat aber offensichtlich eine andere Auffassung von Wissenschaftlichkeit.

Noch etwas: Die Verteidigung hat sich eine neue Taktik überlegt – dafür hat sie ziemlich genau zwei Jahre gebraucht. Sie fuhr einen Angriff auf gegen die Bezirksregierung Arnsberg und stellte dar, diese sei von Anfang an über „alles“ informiert gewesen und habe es geduldet. Nun sitzen Herr Neupert und Mittäter völlig zurecht auf der Anklagebank, aber da gehören auch noch andere hin. Der Bezirksregierung Arnsberg muss man den Vorwurf machen, dass sie zu vielem geschwiegen hat und sich zahlreiche leicht zugängliche Informationen nicht besorgt hat; auch die Stadt Dortmund muss sich diesen Schuh anziehen, auch bei der Aufarbeitung des Skandals, der Sanierung des verseuchten Geländes usw. Schön ist, dass nicht nur die „Bürgerinitiative für die Aufklärung des PCB-Skandals in Dortmund“ sich nun bei ihrer Kritik an der Bezirksregierung sogar auf die Aussagen der Verteidigung berufen kann. Lenin hat da irgendwann irgendwo mal etwas von „nützlichen Idioten“ gesagt...

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12 (6-2014) Zum Envio-PCB-Skandal in Dortmund:

Prozess gegen Dirk Neupert und Mitangeklagte vor skandalösem Ende ?

Envio hat die Gesundheit meiner Familie kaputt gemacht, hat meinen Mann vergiftet, meinen Sohn, hat meinen zweiten Sohn krank gemacht – ich hoffe, dass sie alle bestraft werden und das bekommen, was sie verdienen.“

So äußerte sich die Frau eines der Hauptgeschädigten Althoff, der drei Jahre lang als Leiharbeiter bei Envio gearbeitet hat – bis zur Schließung des Werkes im Mai 2010. Dirk Neupert verdiente sich bis dahin – auf gesundheitliche Kosten der bei ihm Beschäftigten – eine „goldene Nase“ mit dem Recycling, der Ausschlachtung alter Transformatoren und Transistoren; vor allem das in ihnen enthaltene Kupfer war und ist hochbegehrt. Doch diese alten Geräte enthalten auch hochgiftige und nachweislich gesundheitsschädigende Stoffe, die PCB-Verbindungen. Das ist eine Gruppe von 209 verschiedenen Stoffen, die zum „dreckigen Dutzend“ gezählt wird, den zwölf giftigsten chemischen Stoffgruppen, die man kennt. PCB-Verbindungen werden künstlich hergestellt, es gibt also keine natürlichen Organismen, die sie wieder abbauen. Die PCBs sind wasserunlöslich, lagern sich aber in Fettgeweben ab und reichern sich dort an mit Halbwertszeiten von bis zu mehreren Jahrzehnten, falls der Mensch so lange lebt. Alle 209 Verbindungen sind unterschiedlich schädlich, ihre Verwendung ist seit Jahrzehnten weltweit verboten. AZ hat in den letzten zweieinhalb Jahren schon mehrfach über PCB, über die Dortmunder Skandalfirma Envio und den Prozess berichtet.

Aus den oben zitierten Worten klingt keine große Zuversicht einer der Geschädigten in das Rechtssystem dieses Staates – schon vor Prozessbeginn im Mai 2012 hatte sie nicht mehr als Hoffnung...

Der WDR Dortmund hat im November 2011 eine eindrucksvolle 45minütige Dokumentation über den Skandal gesendet und im Juli 2012 – nach Prozessbeginn im Mai – eine ergänzte Fassung noch einmal ausgestrahlt. Diese 2. Fassung endet mit dem ersten Gerichtstag und der Kommentator drückt seine Befürchtungen am Schluss des Filmes noch deutlicher aus:

Ob Neupert für einen der größten Umweltskandale in Deutschland zur Verantwortung gezogen wird, ist heute völlig offen – auch, ob sich am Ende überhaupt jemand verantworten muss.“

Das war nach dem ersten Prozesstag. Seitdem hat es in zweieinhalb Jahren mehr als hundert Prozeßtermine gegeben und der WDR hat sich anlässlich dieses „Jubiläums“ so geäußert: Nur, wenn Dirk Neupert wegen Körperverletzung verurteilt wird, haben die Geschädigten Aussicht auf Schadensersatz..

Doch das ist schon seit langem sehr unwahrscheinlich. Die Anklage lautet sinngemäß auf Körperverletzung durch Envio und auf Verstößen gegen Auflagen der Bezirksregierung Arnsberg und der Stadt Dortmund. Der Staatsanwalt, der diese Anklage erhob, ist kein Anfänger. Es gibt den Vorwurf, dass er die Anklage so formulierte, um einen bestimmten Prozessausgang zu erreichen. So, wie die Anklage lautet, muss eine Körperveletzung durch Envio nachgewiesen werden, und das ist definitiv unmöglich. Denn die meisten gesundheilichtn Schäden, die den PCB-Einwirkungen zugeschrieben werden, können auch andere Ursachen haben; es gibt nur eine Erkrankung (Chlor-Akne), die nur durch PCB verursacht wird; an ihr ist ein Envio-Beschäftigter erkrankt, doch der gehört nicht zu den Nebenklägern, spielt also im Prozess keine Rolle. Würde die Anklage lauten auf „fahrlässige“ bzw. „vorsätzliche“ Körperverletzung, so stünden die Fahrlässigkeit bzw. der Vorsatz im Mittelpunkt der Gerichts-Untersuchungen und könnten eindeutig nachgewiesen werden, doch das ist nicht der Fall. Ein „Versehen“ des Staatsanwaltes?

Zahlreiche Envio-Opfer haben an einem von der Berufsgenossenschaft finanzierten, dreijährigen Betreuungsprogramm an der Universität Aachen teilgenommen. Es stand unter der Leitung von Prof. Kraus. Obwohl es seine Aufgabe war, die Geschädigten auf gesundheitliche Veränderungen hin zu untersuchen, betreute er sie auch psychologisch und empfand mit ihnen, was dazu führte, dass er vom Landgericht Dortmund auf Antrag der Verteidigung als „befangen“ abgelehnt wurde – wer Mitgefühl mit den Opfern hat, ist befangen. Ähnlich erging es zwei anderen Sachverständigen, die offen ihr Mitgefühl mit den Opfern bekundeten. Keine Probleme in dieser Beziehunh hatte der vom Gericht und der Verteidigung akzeptierte „Hauptsachverständige“ Rettenmeier.

Die Untersuchungen von Prof. Kraus ergaben, soweit sie uns bekannt sind, für alle Untersuchten eine deutlich höhere PCB-Belastung im Blut zu Beginn des Betreuungsprogramms (unmittelbar nach Schließung von Envio) verglichen mit den nach drei Jahren ermittelten Werten. Für uns – aber offenbar nicht für das Gericht – ist das ein eindeutiger Beweis für die höhere PCB-Belastung durch Envio. Auch eine auffällig häufige und starke Schädigung der Schilddrüse war festzustellen – für die Berufsgenossenschaft Beweis genug, um das Betreuungsprogramm um weitere drei Jahre zu verlängern. Auch zahlreiche andere Schäden treten gehäuft auf, z.B. Zellschäden, Leberschäden, Hauterkrankungen, Nervenschäden, psychische Schäden. Ja, sogar dem vom Gericht als „Hauptsachverstängiger“ auserkorene Prof. Rettenmeier (Uni Duisburg-Essen, inzwischen im Ruhestand, also nur aufs Akten-Studium angewiesen und offenbar ohne eigene Untersuchungen) fällt beim Studium eben dieser Akten auf, dass einzelne Geschädigte ein unzeitgemäß aktiviertes Immunsystem haben, d.h. es werden Anti-Körper gegen nützliche, gesunde Körperzellen gebildet, was Prof. Rettenmeier auf PCB zurückführt.

Das alles ficht das Gericht jedoch nicht an. Der Versuch der Nebenkläger, andere Sachverständige heranzuziehen, wird abgelehnt. Eine Verurteilung wegen Körperverletzung hat, so sieht es aus, keiner der drei Angeklagten zu befürchten. Das bedeutet, dass die mehreren hundert Opfer keine Entschädigung erhalten, ja, ihre Körperverletzung wird noch nicht einmal als Berufskrankheit anerkannt (bei drei Personen gab es die Anerkennung, doch ohne Hinweis auf Envio).Und es sieht nun sogar so aus, als müssten Neupert und Mittäter nicht einmal mit einer Verurteilung wegen Schädigung der Umwelt rechnen, denn der zuständige Richter geht mittlerweile davon aus, dass die Bezirksregierung Arnsberg über alle Vorgänge bei Envio informiert war; sie ist auch nach Auffassung des WDR sehr schluderig mit den Genehmigungen und deren Kontrolle umgegangen, was einer Duldung gleichkommt.

Bis zum 100. Prozesstag waren nach vorsichtigen (!) Schätzungen des WDR Gerichtskosten in Höhe von mindestens 180.000 Euro angefallen, davon für (dem Gericht genehme ?) „Sachverständige“ etwa 40.000 Euro, für Pflichtverteidiger 100.000 Euro. Herr Neupert hat außerdem (mehrere ?) Wahlverteidiger, die er zunächst selbst bezahlen muss – das Geld erhält er allerdings von einer Manager-Haftpflichtversicherung zurück... Der WDR geht davon aus, dass der Prozess alles in allem mindestens eine halbe Millionen Euro kosten wird. Sollten die Angeklagten nicht verurteilt werden – vieles deutet darauf hin – dann kommt hierfür die „Staatskasse“ auf, also die Steuerzahler. Zu denen gehören auch die PCB-Geschädigten, die dürfen dann nicht nur mit ihrer Gesundheit zahlen. Damit nicht genug: es geht ja auch um die Sanierung des Geländes und und und ... Auch da dürfen sie (und wir) dann zur Kasse, die oben erwähnte „goldene Nase“ des Neupert hat wohl nichts zu befürchten!

Das Urteil (am 16. Dezember ?) wird „im Namen des Volkes“ gesprochen werden. In wessen Namen allerdings der Prozeß geführt wird, verdeutlicht vielleicht folgende Episode, die uns Prozeßbesucher erzählten:

Vor etwa zwei Jahren sollte an einem Freitag Herr Neupert vor Gericht aussagen (bis dahin und danach hatte er nur seine Anwälte reden lassen - vielleicht, um sich nicht zu verplappern). Doch der Richter teilte mit, dass Herr Neupert erkrankt sei und ein Attest vorgelegt habe; es wurde dann ein anderer Prozeßpunkt vorgezogen. Beim darauf folgenden Prozesstermin sollte ein ehem. Envio-Beschäftigter befragt werden, doch auch das ging nicht. Der Richter teilte mit, er sei erkrankt und habe ein ärztliches Attest vorgelegt; er sei vom Gericht darauf hingewiesen worden, welche schweren Folgen ein Gefälligkeitsgutachten für ihn und den betreffenden Arzt haben könne; nach so einem Hinweis würden die Erkrankten oft erstaunlich schnell gesund, doch Herr XYZ sei wohl wirklich krank...

Bei Herrn Neupert hatte der Richter eine solche Bemerkung nicht gemacht. Für uns ist das ganz zweifellos ein eindeutiger Beweis für die Objektivität, die Neutralität, die Ernsthaftigkeit des Richters...

Ein gewisser Karl Marx soll einmal geäußert haben: „Die herrschenden Gesetze sind die Gesetze der Herrschenden.“ Mensch Karl, in welcher Welt hast Du denn gelebt?

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13 (1-2015) Zum Stand im PCB-Envio-Skandal in Dortmund

Zumindest keine Vollbremsung...

Das befürchtete Prozess-Ende am 16. Dezember 2014 (siehe AZ 6/14) bleibt nun erfreulicherweise doch noch aus – das Landgericht Dortmund hat einen Terminplan zumindest bis April 2015 bekanntgegeben. Wir sind als Kommunisten und Marxisten zwar Realisten, aber auch bei uns stirbt die Hoffnung zuletzt – die Hoffnung, dass die drei Angeklagten doch noch zur Rechenschaft gezogen werden und ihre zahlreichen Opfer zumindest eine ausreichende Entschädigung erhalten und dass ihre durch Envio ruinierte Gesundheit als Berufskrankheit anerkannt wird.

Genährt wurde diese Hoffnunf zunächst dadurch, dass eine Anwältin der Nebenklage (bezeichnenderweise nicht der Staatsanwalt !) einen Befangenheitsantrag gegen den vom Gericht offenbar als Haupt-Sachverständigen betrachteten Gutachter Alfred Rettenmeier gestellt hatte. Der war nämlich nicht in der Lage, aus den ihm vorgelegten medizinischen Unterlagen von 29 Opfern einen Nachweis für irgendein Verschulden der Angeklagten in Richtung Körperverletzung zu entdecken. Der Befangenheitsantrag gegen ihn stützte sich vor allem auf das von Prof. Rettenmeier erstellte, viele Seiten umfassende Gutachten, das die Anwältin der Nebenklage schon bei der Anhörung des „Gutachters“ im Gerichtssaal ziemlich zerpflückte.

Am 16. Dezember wurde nun nicht der Prozess beendet, sondern die Entscheidung über den Befangeheitsabtrag verkündet. Würde dem Antrag stattgegeben, so könnte das bedeuten (so der Richter nach Aussagen von Prozessbeobachtern), dass der Prozess um 6-9 Monate unterbrochen werden müsse, dass neue Gutachter (evtl. auch im Ausland) gesucht werden müssten, die möglichweise eine Einarbeitungszeit in die Problematik von zwei Jahren oder länger benötigten, und dass der Prozess dann noch einmal ganz neu aufgerollt werden müsste.

Nicht nur die Dortmunder Bürgerinitiative gegen den PCB-Skandal begrüßte diese Entwicklung, weil zumindest das Schlimmste zunächst einmal abgewendet wäre. Sie führte am 16. Dezember ab 9.45 eine optisch wirksame Aktion vor dem Landgericht durch, bei der viele der noch ungelösten Probleme aufgezeigt wurden (siehe unten).

Das Gericht entschied dann leider doch wie befürchtet: der Befangenheitsantrag wurde abgelehnt. Zwei Sprecherinnen des Gerichts wechselten sich ab beim hastigen und genuschelten Verlesen der langen Ablehnungsbegründung. Es war kaum etwas zu verstehen. Notizen als Gedächtnisstütze zu machen war unpraktisch, denn dann verpasste man ein paar der wenigen verständlichen Satzteile – also konnten die ungewöhnlich zahlreichen Zuhörer nur versuchen, sich einen Gesamteindruck zu bilden. Und der spricht nicht für das Gericht. Als bezeichnend greifen wir heraus:

Prof. Rettenmeier hatte in seinem Gutachten offenbar geschrieben, es gäbe keine wissenschaftlichen Untersuchungsergebnisse über gesundheitliche Auswirkungen von PCB auf den Menschen. Dies widerlegte die Nebenklage mit dem Hinweis auf die sog. Iowa-Studie (USA 2011). Das wurde nun wiederum vom Gericht zurückgewiesen, weil bei dieser Studie nur „in vitro“ („im Reagenzglas“) untersucht worden sei. Tatsächlich waren aus dem menschlichen Körper isolierte Zellen auf Schädigung durch PCB hin untersucht worden und diese eindeutig nachgewiesen worden. Gegen-„Argument“ des Gerichts: damit ist ja nicht wissenschaftlich „belastbar“ bewiesen, dass diese Zellen auch geschädigt worden wären, wenn sie nicht isoliert gewesen wären. Zu gut (?) Deutsch: das Gericht bemängelt offenbar, dass für die Iowa-Studien keine Versuche an Menschen durchgeführt wurden. Das beweist unseres Erachtens aber, dass unter den Iowa-Wissenschaftlern kein Dr. Mengele war, was wir begrüßen. Doch das scheint nun zugunsten der Angeklagten ausgelegt zu werden und zum Nachteil der Menschen, die der zuständige Richter an früheren Verhandlungstagen selbst als „PCB-Geschädigte“ bezeichnet hatte. Übrigens meldete sich unnötiger, aber bezeichnender Weise auch der Staatsanwalt zu Wort mit dem Hinweis, er teile die Befangenheitsbedenken der Nebenklage (alle anderen Nebenkläger hatten sich ihr angeschlossen) nicht. Was Wunder? Schließlich hatte er Herrn Prof. Rettenmeier als Gutachter vorgeschlagen. Seine Anklage lautet übrigens sinngemäß auf „Körperverletzung in Tateinheit mit Verstößen gegen folgende Auflagen.“ Es muss also eine Körperverletzung durch Envio definitiv nachgewiesen werden, was zwar statistisch einfach, aber konkret fast unmöglich ist, weil bis auf Chlor-Akne alle anderen Gesundheitsschäden auch andere Ursachen haben können. Würde die Anklage lauten auf „Fahrlässige (oder gar vorsätzliche) Körperverletzung...“, so stünden Verstöße gegen Auflagen der Bezirksregierung Arnsberg z.B. im Mittelpunkt. Der Staatsanwalt ist kein Anfänger, er weiß, wie „man“ Anklageschriften abfasst...

Die befürchtete „Vollbremsung“ des Prozesses am 18. Dezember blieb nun aus, bei so einer Bremsung kann man ja auch leicht ins Schleudern kommen. Statt ihrer scheint es ein langsames Ausbremsen zu geben. Der Nebenklage wurde immerhin die Anhörung eines weiteren Gutachters zugestanden.

Keine Versuche, aber Untersuchungen an Menschen haben übrigens Prof. Kraus und sein Team von und an der TH Aachen durchgeführt. Er ist Leiter des Betreungsprogramms, das nunmehr seit gut viereinhalb Jahren für die Envio-Opfer durchgeführt wird. Es gibt in der Welt niemanden sonst, der über einen so langen Zeitraum Untersuchungsergebnisse vorliegen hat. Er wäre daher ein Wissenschaftler, den man zur Beurteilung von PCB-verursachte Gesundheitschäden beim Menschen zurate ziehen müsste. Doch Prof. Kraus wurde auf Antrag der Verteidigung vom Gericht als „befangen“ abgelehnt – er macht aus seinem Mitgefühl für die untersuchten Menschen keinen Hehl.

Nun soll – wahrscheinlich im Januar – Prof. Tim Brümmendorf vom Gericht befragt werden. Er hat offenbar bei den von ihm untersuchten Arbeitern, Familienangehörigen und Anwohnern die Schädigungen durch PCB beobachtet, die in der Iowa-Studie nur an isolierten Zellen bewiesen wurden: eine Schädigung der Zellenden (Telomere), die sich beim gesunden Menschen regelmäßig abspalten und neue Zellen bilden – nach PCB-Einwirkung tun sie das nicht; es wird die Bildung neuer Zellen jedoch gebremst, ähnlich wie oft bei älteren Menschen; das ist eindeutig eine Körperverletzung, diesmal eindeutig nicht durch „...höchst ungesunden Lebensumstände“, wie von der Verteidigung unterstellt. (Eigentlich nicht) erstaunlich ist, dass Prof. Brümmendorf nicht als Gutachter aussagen darf, sondern nur als „Sachverständiger Zeuge“. Moment mal – da war doch was? Ach ja, Prof. Kraus, durfte der nicht auch nur als...? Genau! Und nun rate mal, liebe(r) Leser(in), wo Prof. Brümmendorf arbeitet? Richtig! In Aachen, an der Technischen Hochschule. Und noch schlimmer: an demselben Institut wie Prof. Kraus! Und noch viel schlimmer: im Team von Prof. Kraus! Na hör mal, liebe(r) Leser(in), wie kannst Du denn da an Sippenhaft denken!

AZ schließt sich den Kritiken der Bürgerinitiative am Prozess, an der Bezirksregierung Arnsberg und der Stadt Dortmund und den Forderungen an:

Sicherung des Wirtschaftsstandortes Dortmund - Hauptsache Arbeitsplätze – zu welchem Preis, das ist egal!“

Entschädigung der betroffenen Arbeiter und ihrer Familien!“ - „Verurteilung der Envio-Verantwortlichen!“ - „Sanierung des verseuchten Geländes – aber nicht auf unsere Kosten!“

Der Envio-Skandal: ein Umwelt-, ein Politik-, ein Justizskandal!“ - „Freispruch für Neupert = Ermutigung für Unternehmer zur sanktionslosen Vernachlässigung von Umwelt und Arbeitsschutz!“

Der eindrucksvolle Dokumentarfilm des WDR ist unter „Grünkohl, Gifte und Geschäfte“ bei YouTube zu sehen.

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14 (4-2015) Dortmund: Envio-Geschädigte - Angst ist ihr ständiger Begleiter

 

(Als Kasten): AZ hat seit mehr als zweieinhalb Jahren immer wieder über diesen Skandal berichtet und wir fürchten und hoffen, das wird auch in Zukunft noch öfter der Fall sein. Für „Seiten-Einsteiger“ in unsere Zeitung deshalb hier einige Kurzinformationen zu PCB und zum bisherigen Prozeßverlauf:

PCB wurde wegen seiner Eigenschaften vor etwa 60 Jahren in der Bauindustrie verwendet und als Isoliermittel z.B. in Elektrogeräten wie Transformatoren. Seine gesundheitsschädigende Wirkung wurde schnell erkannt, es zählt zum „dreckigen Dutzend“ der giftigsten chemischen Stoffgruppen; seine Herstellung und Anwendung ist daher seit Jahrzehnten weltweit verboten. Es ist eine Stoffgruppe von 209 verschiedenen, alle unterschiedlich wirkenden Schadstoffen. Da die Gefährlichkeit bald erkannt und die Nutzung verboten wurde, wurde die Forschung eingestellt und erst wieder in Zusammenhang mit vor allem Envio wieder aufgenommen. Alle 209 Verbindungen sind künstlich hergestellt, es gibt also keine Organismen, die sie wieder abbauen. Ihre „Halbwertszeit“ ist lang. Die 209 Stoffe unterscheiden sich durch die Anzahl und die Anordnung der ihnen künstlich zugefügten Chlor-Atome (PC = PolyChlor). Auch über die Zerfallsprodukte der Stoffe und deren eventuelle Auswirkungen ist kaum etwas bekannt. Gesichert ist, daß „niederwertige“, also PCBs mit wenigen Chloratomen das Erbgut des Menschen beeinflussen und dass ihre Halbwertszeit kürzer ist als die „höherwertigen“ PCBs. Außerdem sind alle PCBs wasserunlöslich, aber fettlöslich – sie reichern sich daher in fetthaltigen Geweben an. Aufgenommen mit der Nahrung, durch die Atmung oder über die Haut gelangt PCB ins Blut, bleibt dort aber nicht, sondern wandert ins Fett weiter. Eine Abnahme der PCB-Werte im Blut bedeutet für Betroffene also keine Besserung, sondern nur, dass das PCB jetzt (jahrzehntelang) im Körperfett ist. Fie Hautkrankheit Chlorakne ist die einzige Krankheit, die eindeutig auf PCB zurückzuführen ist.

Das Recycling-Unternehmen Envio machte seinen Profit vor allem mit der Ausschlachtung alter Transistoren, deren wertvolle Kupferspulen herausgeholt wurden – die waren allerdings durch PCB isoliert. Envio wurde 2010 stillgelegt und Herr Neupert und drei Mittätter angeklagt. Der Prozeß war zunächst nur für eine Dauer von paar Wochen angesetzt und drohte auch einmal eingestellt zu werden; er wurde immer wieder verlängert. Bei Envio in Dortmund (in Südkorea macht Neupert weiter) waren hauptsächlich Zeitarbeiter beschäftigt. Ihre gesundheitlichen Schädigungen durch Envio/PCB werden bisher nicht als Berufskrankheit anerkannt.

 

Der Prozess um den Envio/PCB-Skandal geht in das vierte Jahr. Der in seinem Beruf zweifellos erfahrene Staatsanwalt hat die Anklage so formuliert, dass es äußerst schwierig ist, den Angeklagten eine Schuld nachzuweisen; sie lautet sinngemäß „Körperverletzung und Verstoß gegen diese und jene Auflagen“. Dabei ist „Körperverletzung“ der schwerwiegendere Vorwurf und muss konkret nachgewiesen werden, die Umweltschädigungen spielen dann eher eine Nebenrolle. Eine Körperverletzung der bei ihm beschäftigten Menschen durch PCB konnte dem Hauptangeklagten Dirk Neupert bisher nicht nachgewiesen werden. Gutachter wie der das Betreuungsprogramm der Geschädigten leitende Prof. Kraus (Aachen) wurden wegen ihres offensictlichen Mitgefühls für die PCB-Belasteten vom Gericht auf Antrag der Verteidigung als Sachverständige abgelehnt und durften entweder gar nicht oder nur als „sachverständige Zeugen“ aussagen, aber ihre eigenen Untersuchungsergebnisse nicht auswerten. In sie hatten die Geschädigten und auch die Mitglieder der Dortmunder Bürgerinitiative große Hoffnungen gesetzt.

Der WDR hat im November 2011 und in einer ergänzten Fassung im Juli 2012 in einer sehr guten Dokumentation über diesen Skandal berichtet; sie ist bei YouTube zu finden unter dem Titel „Grünkohl, Gifte und Geschäfte“. Sie ist objektiv, aber nicht neutral: sie nimmt Position für die Opfer ein und gegen die Täter. Als im vergangenen Dezember das Ende des Prozesses drohte, gab ein WDR-Mitarbeiter seinem Bericht den Titel „Kommt Envio-Chef Neupert ungestraft davon?“ Hier fehlt an Deutlichkeit eigentlich nur das Wort „etwa“...

Eine Vertreterin der Nebenklage hat erreicht, dass als weiterer Sachverständiger Prof. Brümmendorf aus Aachen vom Gericht befragt wurde. Auch bei seiner Befragung war der WDR anwesend und brachte einen Bericht, aus dem eine Enttäuschung, dass es wieder nicht gelungen war, den noch übriggebliebenen 2 Angeklagten eine Körperverletzung nachzuweisen, deutlich zu spüren war.

Es waren übrigens ursprünglich einmal vier Angeklagte, aber einer von ihnen (der einzige aus der Arbeiterklasse stammende) wurde nach Eingeständnis von einigen Kleinigkeiten gegen ein Bußgeld von 3000 € aus dem Prozess entlasse und ein weiterer (aus der Oberschicht) aus uns nicht bekannten Gründen ebenfalls.

Die Bürgerinitiative und auch wir beurteilen die Aussagen von Prof. Brümmendorf jedoch ganz anders. Er hat auf Bitten von Prof. Kraus das Blut von 24 Patienten des Betreuungsprogramms untersucht: wie wirkt sich PCB auf die Blutplättchen und auf die Lymphocyten (zu den weißen Blutkörperchen gehörend) aus? Er untersucht seit längerem die Auswirkungen von PCB auf die die Erbinformationen enthaltenen Chromosomen im Zellkern. Er und andere Wissenschaftler haben herausgefunden, dass durch PCB die sog. Telomere geschädigt werden, das ist der Anfangsbereich jedes Chromosoms. Am Vorhandensein eines Telomers „erkennt“ das bei der Zellteilung an der Verdoppelung des Chromosoms beteiligte Enzym, wo der Anfang ist, in welcher Richtung also die Verdoppelung abzulaufen hat. So ein Telomer besteht aus einer ganzen Reihe von 6 sich immer wiederholenden Basen; bei jeder Teilung wird ein Stückchen des Telomers abgetrennt, wodurch dieses natürlich (wörtlich gemeint !) immer kürzer wird. Irgendwann ist das Telomer so kurz, dass eine weitere Teilung zum Tod der Zelle führen würde. Dem wirkt das Enzym Telomerase entgegen, das die ursprüngliche Länge wieder herstellt. Es kann sein, dass das abgetrennt Telomerstückchen für das durch die Teilung entstandene Chromosom verwendet wird, um hier den Anfang deutlich zu machen; es ist natürlich viel zu kurz, wird dann aber wohl durch die Telomerase zur vollständigen Länge aufgebaut.

So, nun etwas weniger trocken: es ist – auch durch Prof. Brümmendorf – bewiesen, dass PCBs das Enzym Telomerase schädigen, also den (Wieder)Aufbau der Telomere. Prof. Brümmendorf hat bei allen 24 von ihm Untersuchten bei den Lymphozyten eine deutliche Verkürzung der Telomere festgestellt. Er hat seine Untersuchungen noch nicht beendet, hat aber vor Gericht eindeutig ausgesagt, dass er auf Grund seiner Untersuchungen zu der festen Überzeugung gekommen ist, dass alle 24 Patienten dauernd (!) medizinisch betreut werden müsen – nur wissenschaftlich beweisen kann er es (noch) nicht.

Das ist die bisher eindeutigste Aussage zugunsten der Geschädigten, die ein Gutachter im Envio-Prozess gemacht hat – andere wollten es nicht oder (wie Prof. Kraus und Dr. Kruse aus Kiel) durften es als angeblich Befangene nicht. Die lebenslange medizinische Untersuchung ist eine eindeutige Minderung der Lebensqualität der Betroffenen und damit zumindest eine Vorstufe der Körperverletzung, die es ja den Angeklagten nachzuweisen gilt. Das spürte auch die Verteidigung und versuchte mit einigen primitiven Tricks, die Aussagen von Prof. Brümmendorf zu erschütter. Wann zum Beispiel wurden die Blutproben untersucht? Nun, natürlich kamen sie sofort nach ihrer Entnahme ins Labor und nicht erst monatelang ins Gefierfach... 24 Personen sind doch – statistisch gesehen – viel zu wenige Nun, 100 Prozent sind 100 Prozent! Unser Kommentar: wenn in einem Raum 8 Personen sind und es bricht ein Brand aus und danach haben alle 8 Personen Brandwunden, kann man dann den Brand als Ursache angeben oder ist das „statistisch nicht gesichert“?

Übrigens gibt es eine Methode, mit der der Einfluss von PCB auf Gene des Erbguts direkt nachgewiesen werden kann. Hierzu die Auskunft einer Mitarbeiterin der in Kamp Lintfort gegen die auswirkungen der dortigen PCB-Verbrennungsanlage kämpfenden Bürgerinitiative:

Es ist eine ganze Gen-Batterie, die durch dl-PCB und Dioxine zur Replikation angeregt wird. Unter anderem werden Cytochrom-P450-Oxidasen gebildet, bsp. CYP1A1, CYP1A2.

Diese Enzyminduktion wird als Hauptschädigungsmechanismus der dioxinähnlichen Verbindungen angesehen.

CALUX verwendet ein reportergen-basiertes System aus gentechnisch veränderten, menschlichen Krebszellen. Die Ausmaß der Genaktivierung ist proportional zur Konzentration der dl-PCB in der zu untersuchenden Matrix, Blut, Staub etc. und wird als ausgesendetes Licht mit einem Luninometer gemessen.“

Das ist an Leute gerichtet, die sich mit dem Thema seit langem beschäftigen – wir haben den auch für andere verständlichen und entscheidenden Satz hervorgehoben. In Amsterdam wird diese Untersuchungsmethode angewendet. Man kann mit ihr eindeutig nachweisen, dass und in welchem Ausmaß PCB und andere dioxinähnliche Stoffe bestimmte Abschniite zu einer unnatürlichen Aktivität veranlassen. Mit dieser Methode könnte also eine Körperverletzung eindeutig nachgewiesen werden, doch sie wird – die Angeklagten wird es freuen – in Deutschland nicht angewendet... Warum wohl nicht? Ach, hört doch auf mit Euren Verschwörungstheorien!

Angst ist ihr ständiger Begleiter“ ist übrigens der erste Satz des Sprechers im „Grünkohl-Film“ – Prof. Brümmendorf hat seine Richtigkeit bestätigt.

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15 (5-2015) Envio-Prozess in Dortmund –

Ein Ende mit Schrecken?

Im Mai 2012 begann vor dem Landgericht Dortmund der Prozess gegen den Betreiber des Recycling-Unternehmens „Envio“ und drei weitere Angeklagte. AZ hat mehrfach über den Skandal und den Prozess berichtet. Es geht um die Vergiftung zahlreicher bei Envio beschäftigter Menschen und in der Nähe des 2010 stillgelegten Betriebes Lebenden mit hochgiftigen Verbindungen der PCB-Gruppe. Hier soll es diesmal hauptsächlich um den Prozess gehen. Es deutet sich an, dass der Umweltskandal auch zu einem Justizskandal wird.

Ich hoffe, dass sie alle bestraft werden und das bekommen, was sie verdienen“ – so Angelique Althoff, die damalige Frau eines der Hauptgeschädigten. Ihre Ehe ist inzwischen gescheitert: Christian Althoff, drei Jahre als Leiharbeiter bei Envio beschäftigt und sehr stark PCB-belastet, ist heute nervlich leicht reizbar – eine typische Folge von PCB-Vergiftung, allerdings eine der harmloseren...

Wie andere Sender auch berichtete ARD in der Tagesschau über den Prozessbeginn und rechnete mit einer Strafe von bis zu 10 Jahren Haft.

Ob (Dirk Neupert) am Ende für einen der größten deutschen Umweltskandale zur Verantwortung gezogen wird, ist heute noch völlig offen – auch, ob sich Ende überhaupt jemand verantworten muss“ – so der Kommentar der Sprechers im Dokumentarfilm „Grünkohl, Gifte und Geschäfte“ des WDR im Juli 2012.

Die hier bereits kurz nach Prozessbeginn geäußerten Zweifel scheinen sich nun zu bestätigen: Für den Hauptangeklagten Neupert deutet sich ein Freispruch mangels Beweisen an in Bezug auf den Anklagepunkt „Körperverletzung“ – die Richter vertreten die Auffassung, eine Körperverletzung sei nicht „belastbar“ nachgewiesen, man könne allenfalls von einer „abstrakten Gefährdung“ reden.

Wir wissen nicht, ob „abstrakte Gefährdung“ in der Juristerei ein Fachterminus ist – zuzutrauen wäre es. Logisch ist er jedenfalls ein Unding. Entweder besteht eine Gefährdung, dann ist sie konkret, allenfalls noch nicht akut; oder es besteht keine Gefährdung, dann ist sie auch nicht „abstrakt“, sondern gar nicht vorhanden.

Der Prozess dauert nun schon fast dreieinhalb Jahre. Er begann für die Nebenkläger (51 Envio-Opfer), interessierte Dortmunder Bürger und die Mitglieder der Dortmunder Bürgerinitiative zur Aufklärung des PCD-Slandals recht verheißungsvoll. Der Staatsanwalt legte sich mächtig ins Zeug und haute den damals noch vier Angeklagten zahlreiche Verstöße um die Ohren. Auch in den folgenden Sitzungen erweckte er einen für die Envio-Opfer engagierten Eindruck: er forderte die Befragung von sieben Sachverständigen, warf der Verteidigung Prozessverschleppung vor usw.

Doch unter den Prozessbeobachtern kamen die ersten Warnungen auf. Grund dafür war die Art der Anklage: sie lautete sinngemäß „Körperverletzung in Tateinheit mit Verstößen gegen (zahlreiche Auflagen der Behörden)“ Es musste also eine Körperverletzung der Nebenkläger durch Envio-PCB konkret nachgewiesen werden und das ist sehr schwer, denn außer der Hautkrankheit Chlor-Akne können alle anderen durch PCB verursachten Gesundheitsschäden auch durch andere Ursachen hervorgerufen werden. Hätte die Anklage z.B. auf „fahrlässige Körperverletzung im Tateinheit mit...“ gelautet, so wäre die Fahrlässigkeit anhand der Auflagenverstöße und der fehlenden oder unzureichenden Schutzkleidung und anderer Schutzmaßnahmen leicht zu beweisen. So aber ist es sehr schwer. Einem Anfänger in der Position des Staatsanwalts kann so ein Fehler unterlaufen, auch er muss erst Berufserfahrungen sammeln. Doch unseres Wissens ist dieser Staatsanwalt kein Anfänger... (mit den Pünktchen fordern wir die/den Leser(in) zum eigenen Weiterdenken auf, wir wollen uns nicht strafbar machen.)

Zwei der Angeklagten sind übrigens inzwischen aus dem Prozess raus: der eine hat sich (?) für ein Bußgeld von 3000 € gewissermaßen freigekauft, die Gründe beim anderen kennen wir nicht. (Das erinnert an das Lied „Zehn kleine Negerlein... da waren `s nur noch zwei!“)

Den Prozessbeobachtern fiel nach einiger Zeit auf, dass sich die Art der Prozessführung seitens der Anklage änderte: seit mehr als einem Jahr hat die Nebenklage vor allem durch eine junge Anwältin die Rolle übernommen, die eigentlich dem Staatsanwalt zusteht. Sie verbeißt sich in das vom Sachverständigen Prof. Rettenmeier (ehem. Uni Duisburg/Essen) vorgelegte mindestens 80seitige Schriftstück, das von Richter und Verzeidigern als „Gutachten“ angesehen wird; sie beantragt – nicht immer erfolglos – die Heranziehung weiterer Sachverständiger; sie fordert mehrfach (vergeblich) die Ablehnung von Prof. Rettenmeier wegen Befangenheit, aus demselben Grund auch die des Richters... Die übrigen Vertreter der Nebenklage unterstützen sie dabei und schließen sich ihren Forderungen und Ausführungen an. Nur der Staatsanwalt - der ist nachweislich im Saal und schweigt, außer dass er sich von den Ausführungen und Anträgen distanziert. Da kommst Du schon ins Grübeln...

Die ehemaligen Bochumer Opelaner der GoG (Gruppe oppositioneller Gewerkschafter) sah sich auf einem ihrer Bildungsurlaube den Film „Grünkohl, Gifte und Geschäfte“ an. Ihre spontane Reaktion: „Wut“ und „Kurzer Prozess!“ Aus letzterem wurde nichts und jetzt befüchten wir das Ende geradezu, denn es droht ein Freispruch vom Vorwurf der Körperverletzung - mangels Beweisen. Das ist zwar ein Freispruch zweiter Klasse, aber immerhin ein Freispruch. Wir wundern uns nicht, wenn jemand den Eindruck gewinnt: darauf hat die Staatsanwaltschaft von Anfang an hingearbeitet. Übrig bliebe (vielleicht !) die Verurteilung wegen der Anwendung nicht genehmigter Verfahren beim Recycling o.ä. Das bedeutet dann aber auch, dass die gesundheitlichen Schäden der Beschäftigten nicht als Berufskrankheit anerkannt werden, die Arztkosten von den Betroffenen selbst getragen werden müssen usw.

Die Bürgerinitiative hat sich außerdem mit einem Schreiben an den Staatsanwalt und die Vertreter der Nebenklage gewandt mit dem Hinweis auf die strafrechtliche Verurteilung von HIV-Infizierten, die durch ungeschützten Geschlechtsverkehr eine andere Person anstecken. Eine Vergleichbarkeit mit der Belastung durch PCB scheint durchaus gegeben. Der HI-Virus dringt bei dem Infizierten in bestimmte Zellen ein (siehe dazu AZ 4/2015), verbringt dort bis zu 10 oder mehr Jahre im Ruhezustand und tritt erst dann als das Immunsystem ausschaltender Krankheitserreger auf. Ähnlich verläuft es mit den PCB-Verbindungen (209 verschiedene): sie sammeln sich im Fettgewebe über Jahre hinweg an und eventuell erst nach langer Zeit verursachen sie bzw. ihre Abbauprodukte gesundheitliche Schäden. Der HIV-Infizierte läuft also gewissermaßen zehn Jahre oder länger mit der Zeitbombe HIV in sich herum, bevor sie explodiert. Wird das dann vom Landgericht Dortmund als „abstrakte Gefährdung“ bezeichnet und der Verursacher „mangels Beweisen“ freigesprochen? Von anderen Gerichten sind die Verursacher unseres Wissens verurteilt worden. Und die PCB-Belasteten laufen jahrelang mit der Zeitbombe „PCB“ herum, bevor sie explodiert – „abstrakt gefährdet“ und ohne Verurteilung der Verursacher der jetzt oder später festgestellten Körperverletzung.

Der Arbeitsmediziner Prof. Kraus (Aachen) hat im Rahmen des Betreuungsprogramms den Zusammenhang zwischen der Beschäftigungsdauer bei Envio und der PCB-Belastungs des Blutes untersucht und einen eindeutigen Zusammenhang festgestellt: je länger die Arbeitszeit, desto höher die Belastung (dabei hat er auch die unterschiedliche Gefährdung an den Arbeitsplätzen berücksicht). Für die Richter in Dortmund ist das offenbar nur „abstrakt“ und Prof. Kraus ist ja auch als „befangen“ eingestuft worden.

Prof. Brümmendorf, ebenfalls aus Aachen, hat vor Gericht seine bereits bei einer früheren Befragung gemachte Auffassung wiederholt: als Wissenschaftler kann er die Körperverletzung der von ihm Untersuchten (ihm standen nur Akten zur Verfügung) noch (!) nicht beweisen – als Arzt ist er der festen Überzeugung, dass alle Untersuchten regelmäßig medizinisch begleitet, d.h. untersucht werden müssen. Auch diese Aussage reicht dem Gericht nicht. Übrigens hat Prof. Brümmendorf das Gericht darauf aufmerksam gemacht, dass er nur die schriftlichen Unterlagen kennt, aber keinen der Menschen; er bat daher um die Hinzuziehung von Prof. Kraus, da der auch die Personen kennt und über sie besser Auskunrft geben kann als so ein Blatt Papier. Wie hat das Gericht wohl über diese Bitte entschieden? Für sein „Gutachten“ stand Prof. Rettenmeier übrigens auch nur Papier zur Verfügung – Menschen hat er unseres Wissens nicht befragt.

Die Bürgerinitiative hat die Staatsanwaltschaft, die Nebenkläger und die Richter darauf hingewiesen, dass in Amsterdam mit dem „Calux-Verfahren“ sich die schädigende Wirkung von PCBs auf die Erbsubstanz eindeutig beweisen lässt. Dieses Verfahren wird in Deutschland unseres Wissens nicht angewendet. Bisher hat die BI außer einer von ihr für überflüssig gehaltenen „juristischen Belehrung“ keine Reaktion festgestellt. Ist das Gericht an eindeutigen Beweisen nicht interessiert?

Ach, übrigens: wir leben in einem Rechtsstaat! Das herrschende Recht ist das Recht der – äh, wie geht das Zitat noch mal weiter?

Zum Schluss noch eine Korrektur zu unserem Artikel in AZ 4/2015: Wir hatten geschrieben, dass Prof. Brümmendorf bei allen 20 von ihm Untersuchten eine Telomer-Verkürzung nachgewiesen hat; das stimmt so nicht, er hat bei einigen wenigen keine Verkürzung nachweisen können, aber der Durchschnittswert aller 20 ist eindeutig.

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16 (2015) Der Envio/PCB-Skandal in Dortmund:

Das Imperium schlägt zurück...

Ein Ende mit Schrecken“ hatten wir in unserer letzten Ausgabe für den Ausgang des Prozesses vor dem Dortmunder Landgericht vorausgesehen. Das Ende wird nun offenbar doch noch hinausgezögert, dafür wird dann der Schrecken wohl um so größer...

Der Prozess gegen den Firmeninhaber Dirk Neupert und ursprünglich drei weitere Angeklagte läuft seit mehr als dreieinhalb Jahren – übriggeblieben sind nur noch Herr Neupert und Herr der einzige dieses Quartetts, der bisher eine Art Strafe erhielt, war der einzige Arbeiter unter ihnen; er wurde gegen Zahlung eines Bußgeldes von 3000 € aus dem Verfahren entlassen – von welchem Konto sie stammen, entzieht sich unserer Kenntnis.

Der Envio-Betrieb wurde 2010 von der Bezirksregierung Arnsberg stillgelegt wegen der Verseuchung des Firmengeländes und seiner Umgebung durch die beim Recycling von Transformatoren und anderer Elektrogeräte freiwerden hochgiftigen PCB-Verbindungen und wegen Verstößen der Firma gegen Auflagen der Bezirksregierung. Am 9. Mai (dem Tag der Befreiungs vom Hitler-Faschismus!) begann der Prozess mit drei Anklage-Schwerpunkten: Körperverletzung von 51 ehemaligen Envio-Beschäftigten (die als Nebenkläger auftreten), Vergiftung der Umwelt und Verstößen gegen Auflagen.

Hätte die Anklage auf „fahrlässige“ oder „vorsätzliche Körperverletzung“ gelautet, wäre nach Auffassung von Juristen der Prozess längst mit einer Verurteilung der Angeklagten beendet, denn Fahrlässigkeit bzw. Vorsatz wären dann längst nachgewiesen. Doch der Staatsanwalt erhob Anklage nur wegen Körperverletzung. Es war nicht seine erste Anklageschrift nach bestandenem Staatsexamen – wir halten es für möglich, dass er wußte, was er tat.

Medizinische Untersuchungen nicht nur im Verlaufe des seit mehreren Jahren laufenden Betreuungsprogramms der PCB-Opfer haben eindeutige Gesundheitsschädigungen bei allen Untersuchten ergeben, nur: diese Schäden an der Leber, der Schilddrüse, der Niere, im Verhalten usw. können auch durch andere Ursachen hervorgerufen werden. Die Hautkrankheit Chlor-Akne ist die einzige Krankheit, die ausschließlich von PCB verursacht wird. Ein Chlor-Akne-Fall ist auch unter den Betroffenen nachgewiesen, doch der Geschädigte gehört nicht zu den 51 Nebenklägern und ist daher zwar für uns, aber nicht für das Gericht interessant. Die bei den anderen von Prof. Krauss (Aachen) festgestellten Gesundheitsschäden können nach Auffassung des Haupt-Verteidigers Neuhaus „plausibel mit mit höchst ungesunden Lebensumständen“ der Nebenkläger begründet werden. Da können wir nicht einmal widersprechen, doch gerade wegen dieser höchst ungesunden Lebensumstände stehen bzw. standen Neupert und Mittäter ja vor Gericht!

Vor einigen Wochen wies der das Verfahren leitende Richter in einer öffentlichen Verhandlung so deutlich, wie er es vor einer Urteilsverkündigung tun kann, darauf hin, dass es zu einer Verurteilung wegen Körperverletzung nicht kommen werde. Er schlug dem Staatsanwalt, der Nebenklage und der Verteidigung in einem nicht öffentlichen Gespräch die Einstellung des Verfahrens vor. Das Ergebnis dieses Gesprächs verkündete er dann öffentlich auf einem Prozesstermin: die Verteidigung ist (wen wundert es ?) einverstanden; die Anwältinnen und Anwälte der Nebenklage sind – für uns zunächst überraschend – ebenfalls einverstanden; nur der Staatsanwalt bockt: er beharrt auf Körperverletzung. Damit das Verfahren eingestellt werden kann, müssen jedoch alle drei am Prozess beteiligten Parteien einverstanden sein. Also geht der Prozess weiter und wird enden mit... (unsere Befürchtung s.u.)

Erstaunt hat uns die Zustimmung der Nebenklage. Vor allem eine Anwältin hatte mindestens seit einem Jahr die Rolle der Staatsanwaltschaft übernommen und zahlreiche wissenschaftliche Ergebnisse vorgelegt, das Gutachten des „Lieblings-Sachverständigen“ des Gerichts zerpflückt, Befangenheitsanträge gegen diesen Sachverständigen und auch gegen Richter und Richterinnen gestellt usw. – alles wurde abgeschmettert (übrigens schloß sich auch der Staatsanwalt diesen Anträgen nicht an). Und nun knickt sie ein? Da wir bei der Besprechung nicht dabei waren, können wir die Gründe dafür nur vermuten: die Nebenklage erkannte die Aussichtslosigkeit und versuchte, für ihre Mandanten wenigstens noch eine finanzielle Entschädigung herauszuholen. Der arme Herr Neupert schilderte seine finanzielle Situation dem Gericht so, dass er mit Hilfe seiner Verwandtschaft in der Lage sei, etwa 80.000 € Entschädigung aufzubringen. Ehemalige Opel-Arbeiter aus Bochum fragten, als sie diese Summe hörten, sofort: „Für jeden?“ Nein, nein, für alle 51 Nebenkläger zusammen! Das sind dann etwa 1500 € für jeden – d.h. Herr Neupert zahlt jedem für etwa viereinhalb Jahre die Tageszeitung... Wofür übrigens eine Entschädigung? Eine Körperverletzung durch Envio wird ja bestritten! So, liebe(r) Leser(in), Du darfst jetzt wirklich dreimal raten (die Auflösung findest Du auf S. als Anmerkung, aber bitte nicht mogeln!)

Die Bockigkeit des Staatsanwalts erscheint uns auch verständlich: er hält den aussichtslosen Vorwurf der Körperverletzung aufrecht, obwohl er weiß, dass die zwei übriggebliebenen Angeklagten dann freigesprochen werden. So weit wir es juristisch beurteilen können, ist das sogar die einzige Möglichkeit, einen Freispruch zu erreichen. Das ist zwar einer „mangels Beweisen“, aber immerhin...

Bleiben noch die Geländeverseuchung und Verstöße gegen Auflagen. Bleiben sie wirklich? Die Firma, die vor Envio auf dem Gelände tätig war, hat ebenfalls PCB-haltiges Material verarbeitet. So einem auf dem Betriebsgelände gefundenen PCB-Molekül sieht man doch nicht an, seit wann es sich da befindet.

Damit hätten wir das auch vom Tisch. Bleiben noch die Auflagen. Kann man da nicht auch...

Zum einen wird bestritten, dass gegen Auflagen verstoßen wurde; zum anderen wird – leider zu Recht – darauf hingewiesen, dass die Bezirksregierung über alles informiert gewesen sei und alles geduldet habe. Nicht bestritten werden kann von der Verteidigung, dass Envio ein anderes Recycling-Verfahren als das von Arnsberg vorgeschriebene angewendet hat; noch im Jahr 2009 – ein Jahr vor der Stillegung – behauptete Envio in einem Werbeprospekt wahrheitswidrig, das vorgeschriebene LTR-Verfahren anzuwenden, und bezeichnete es als eines der „fortschrittlichsten“ und „sichersten“ . Doch: nun weise Du einmal nach, dass das nicht genehmigte Verfahren schlechter ist als das vorgegebene. Nun, Du brauchst das nicht zu machen, das soll nun ein Umweltprofessor aus Berlin untersuchen. Das Gericht rechnet mit einer Zeit von etwa 18 Monaten für diese Forschungen. Das ist auch der Grund dafür, dass das Ende des Schreckens doch noch nicht eingetreten ist...

Nach den bisherigen Prozess-Erfahrungen rechnen wir damit, dass die Untersuchungen in Berlin zu keinem für Neupert und Mitangeklagte negativen Ergebnis führen werd oder zumindest zu keinen „wissenschasftlich belastbaren“.

Ja und? Körperverletzung ist vom Tisch, ebenso Umweltvergiftung und relevante Auflagen-Verstöße – die beiden letzteren waren übrigens die Gründe für die Betriebs-Stillegung. Also gibt es für die keine rechtliche Grundlage mehr – auf denn. Herr Neupert und Mitstreiter! Vorwärts zur Schadensersatzklage! (Das können wir hier ruhig empfehlen, denn so, wie wir die Verteidigung zu schätzen gelernt haben, kommt sie auch allein auf so etwas.)

Nachtrag: in einer Gesprächsrunde berichteten wir über Verlauf und derzeitigen Stand des Skandals; Kommentar eines Teilnehmers: „Das ist ja reif für eine Kabarett-Sitzunf!“ Das trifft es durchaus, nur: eigentlich bleibt einem da das Lachen im Halse stecken!

 

Auflösung von S. :

Die 51 Nebenkläger sollen für die Belastung durch die lange Dauer des Prozesses entschädigt werden.

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17 (2016) Ring frei zur nächsten Runde im

Envio/PCB-Skandal in Dortmund:

Seit Beginn des Prozesses im Mai 2012 sah es immer wieder so aus, als stünde ein für die Betroffenen unbefriedigendes Ende unmittelbar bevor. So war es auch diesmal: der Prozess sollte im Dezember zu Ende sein. Doch wieder einmal kam es anders: er geht zumindest noch bis Ende April 2016 weiter. Kaum einer der PCB-Geschädigten, kaum jemand aus der Bürgerinitiative hat noch Hoffnung, dass es zu einer Verurteilung der noch übriggebliebenen zwei (von ehem. vier) Angeklagten kommt in einem der größten Umweltskandale Deutschlands. Hauptpunkte der Anklage sind Körperverletzung in 51 Fällen, Umweltschädigung und Verstöße gegen Auflagen der Bezirksregierung Arnsberg. Die beiden letztgenannten Punkte bildeten auch die Grundlage für die verfügte Schließung der Recycling-Firma im Jahr 2010.

Die drei Richter und Richterinnen lassen keinen Zweifel daran, dass ihrer Auffassung nach eine Körperverletzung nicht nachgewiesen werden kann, es also in diesem Punkt keine Verurteilung geben wird, sondern einen Freispruch. Die Verseuchung des Bodens durch Envio wird von der Verteidigung ebenfalls bestritten, da schon vor 2003 (Envio-Start) auf dem Gelände PCB-haltiges Material bearbeitet wurde und es außerdem in Nähe des Firmengeländes auch andere PCB-Quellen geben könnte. Und Nichteinhaltung der Auflagen? Da müßte erst einmal „belastbar“ nachgewiesen werden, dass die abweichend angewendeten Methoden schlechter sind als die vorgeschriebenen...

Die Verteidigung und die Nebenkläger waren bereit, dem vom Gericht gemachten Vorschlag auf Einstellung des Verfahrens zuzustimmen (siehe AZ 5-2015). Nur der Staatsanwalt streubt sich: er beharrt auf Körperverletzung, obwohl (oder weil ?) er weiß, dass dieser Anklagevorwurf vom Gericht zurückgewiesen werden wird. Objektive, aber nicht neutrale Prozessbeobachter fragen sich: warum? Sie haben eine Vermutung: eine Einstellung des Verfahrens bedeutet für den angeklagten Firmenchef Neupert keinen Freispruch und es bleibt dann immer ein Makel an ihm hängen. Aber das Beharren auf der Körperverletzung führt dann zumindest in diesem Anklagepunkt zu einem Freispruch „mangels Beweisen“ – das ist zwar ein Freispruch zweiter Klasse, aber immerhin ein Freispruch...

Eine nicht nur für die Envio-Beschäftigten und Anwohner, sondern für alle Dortmunder wichtige Frage ist auch noch: wer kommt für die bei der Dekontaminierung des Firmengeländes entstehenden Kosten auf? Aus langjähriger Erfahrung weiß natürlich jede geneigte Leserin, jeder geneigte Leser, wer das wieder einmal sein wird...

Da sollte man ja mal z.B. an das Verursacher-Prinzip denken. Doch da tun die unseres Erachtens Schuldigen einiges, um die Verwirrung und Undurchschaubarkeit zu erhöhen. Wie im Oktober 2015 bekannt wurde, hat das Envio-Gelände im April desselben Jahres – von der Öffentlichkeit unbemerkt – den Besitzer gewechselt. Das Envio-Firmengeflecht ist für Uneingeweihte sowieso nicht leicht durchschaubar, mehrere Teilgesellschaften mit Sitz in Dortmund, Hamburg und eventuell noch anderswo, einige von ihnen inzwischen insolvent – bei dieser Verschachtelung „ohne Leitliniensystem“ können Verantwortlichkeiten problemlos vernebelt werden. Für das Firmengelände verantwortlich ist z.B. eine „Envio Grundbesitz Holding GmbH“. Und die gehört nun seit letztem April einem gewissen Michael Flacks bzw. dessen internationaler „Flacks Group“ mit Hauptsitz in Miami (USA). Das heißt, so richtig gehört ihm das Gelände noch nicht, denn der Vertrag ist zwar unterschrieben, aber unseres Wissens nach ist das Geld dafür noch nicht gezahlt. Wer ist Michael Flacks? WDR-Mitarbeiter Kay Bandermann, der den Envio-Skandal seit Jahren objektiv (!) „begleitet“, charakterisiert ihn so: „Michael Flacks ist spezialisiert auf Firmen, die in Schwierigkeiten sind, aber versteckte Werte haben.“ Aha, das Gelände ist etwa 5 Hektar groß und besitzt – saniert ! – in der Dortmunder Innenstadt dann einen enormen Grundstückswert.

Die Verantwortlichen (!!! – jawoll, das seid ihr!) der Stadt Dortmund machen sich über die Sanierungskosten keine Sorgen. Die Firma, der das Gelände gehört, existiert noch, sie hat nur den Besitzer gewechselt. „Aber ist das denn realistisch,“ fragt nicht nur sich die WDR-Kommentatorin, „dass man von einer US-Firma das Geld einklagt – das ist doch schon bei deutschen Firmen enorm schwer.“

Kay Bandermann wies auf einen anderen Aspekt hin: in den vier Jahren seit Prozessbeginn und in der Zeit davor sind zahlreiche sehr umfangreiche schriftliche Gutachten erstellt worden, die nicht nur für die US-amerikanischen Juristen ins Englische übersetzt werden müssen, sondern die auch inhaltlich von denen verstanden und bearbeitet werden müssen – also eine weitere Verschnaufpause für die Angeklagten. Sollte es dann irgendwann zu juristischen Auseinandersetzungen über die Sanierungskosten kommen, dürften die sich auch noch Jahre hinziehen. Vielleicht sterben ja bis zum bösen Ende auch noch ein paar Nebenkläger weg – natürlich nicht wegen PCB, sondern wegen ihrer „höchst ungesunden Lebensumstände“, die Verteidiger Neuhaus „plausibel“ als Erklärung annahm? Recht hat er ja, nur: er vergaß hinzuzufügen, dass gerade wegen der höchst ungesunden Lebensumstände sein Mandant auf der Anklagebank sitzt!

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18 (3-2016): Und täglich grüßt das Murmeltier...

Neues vom PCB-Skandal in Dortmund und anderswo

Das ist ja nur unnütze Geldverschwendung, was wir hier machen,“ – das empfand nicht etwa ein empörter Dortmunder Bürger oder ein Mitglied der „Bürgerinitiative für die Aufklärung des PCB-Skandals in Dortmund“, nein, das äußerte der hauptverantwortliche Richter im seit mehr als 4 Jahren laufenden Prozess. AZ hat über den Prozess mehrfach berichtet.

Im Dezember 2015 begannen die 3 Richter bzw. Richterinnen mit der Verlesung der Protolle der Firma Envio über die Anlieferung der PCB-belasteten Transformatoren. Im Januar ging das weiter. Jeweils für etwa 60 Minuten (oder auch kürzer) trafen sich Richter, Protokollführer, Staatsanwalt, Nebenkläger, Verteidiger und Angeklagte und lauschten der Verlesung von je etwa 50 –100 Seiten – so manche(r) Zuhörer(in) verließ genervt den Gerichtssaal.

So auch im Mai 2016. Doch diesmal verkündete der Richter eine schnellere Folge der nächsten Prozesstermine, so dass bei der zuhörenden Öffentlichket die Hoffnung entstand, es könne nun – nach mehr als 4 Jahren – endlich etwas Entscheidendes eintreten. Doch weit gefehlt – auch im August wurde noch „verlesen“ – und täglich grüßt das Murmeltier. Und nicht nur das: das schon für den Dezember 2015 vorgesehene Gutachten von Prof. Wolfgang Rotard aus Berlin lässt auf sich warten. Die im Jahr 2010 stillgelegte Firma Envio unter dem damaligen Chef Dirk Neupert hatte nachweislich und von ihm nicht bestritten ein anderes Recyclingverfahren angewendet als vorgeschrieben. Die Verteidigung bezweifelt nun, dass dadurch eine höhere PCB-Gefährdung für bei Envio Beschäftigte bzw. Anwohner entstanden sei. Prof. Rotard ist allerdings aus gesundheitlichen Gründen seit etwa einem halben Jahr nicht in der Lage, eine entsprechende Untersuchung (Vergleich beider Methoden) durchzuführen – vielleicht vertreibt man sich auch deshalb die Zeit mit dem unsinigen Verlesen von Daten, die jedem am Prozess Beteiligten schriftlich vorliegen. Gibt es in Deutschland oder anderswo nur Herrn Prof. Rotard, der die Untersuchung durchführen kann?

Prozessbeobachter zitieren den leitenden Richter mit der wiederholten Aussage „Ich weiß auch nicht mehr, was ich machen soll.“ Nanu – sagt ihm das denn keiner? Ach richtig: wir haben ja unabhängige Gerichte...

Von den in auffällig schneller Folge geplanten nächsten Terminen wurden nun mehrere abgesagt unter anderem mit der eingangs zitierten Feststellung. Immerhin eine Aussage, der wir nicht widersprechen...

Inzwischen haben wir erfahren, dass Prof. Rotard für den 15. September zur Anhörung vor dem Dortmunder Landgericht geladen worden ist. Nur: Termine wurden in diesem Prozess schon oft abgesagt oder verschoben. Die Hoffnung (worauf eigentlich ?) stirbt bekanntlich zuletzt...

PCB-Probleme gibt es allerdings nicht nur in Dortmund. Im Essener Stadtteil Kray kämpft z.B. seit vielen Jahren die „Bürgerinitiative gegen Gift-Schredder in Kray“ gegen die PCB-Vergiftung. Die Schredder-Firma Richter steht mitten im Wohngebiet, in dem es auch zahlreiche Kleingärten gibt. Das Umweltamt informierte im April 2015 etwa 1000 Haushalte, dass sie angebautes Gemüse wie z.B. Grünkohl nicht verzehren sollten wegen der nachgewiesenen hohen PCB-Belastung. Diese Warnung gilt auch heute noch. Für alle – das Umweltamt, LANUV, die Mitglieder der Bürgerinitiative – ist bewiesen, dass die Firma Richter die Quelle dieser Belastung ist; nur die Firma bestreitet das natürlich – was im Kapitalismus tatsächlich „natürlich“ ist. Die Bürgerinitiative betrachtet Recycling als sinnvoll, fordert aber seit langem entweder die Stillegung oder die Verlegung der Firma aus dem Wohngebiet und eine vollständige „Einhausung“ der Schredderanlage. Die Firma Richter hat jedoch seit langem einen „Bestandschutz“ und braucht deshalb keine Schließung zu befürchten – Schutz des Unternehmer-Profits geht offenbar über Gesundheitsschutz der Bevölkerung... Wie gut, dass die KZs keinen Bestandschutz hatten!

Eine PCB-Gefährdung für die Bevölkerung gibt es allerdings nicht nur durch Recycling- und Verbrennungsanlagen. PCBs wurden, da sie isolieren, schwer entflammbar sind usw., im Bergbau untertage und auch in der Bauindustrie vor etwa 50 Jahren eingesetzt; ihre Herstellung und Verwendung ist aber nicht nur in Deutschland, sondern weltweit seit langem verboten. Doch die Altlasten wirken nach...

Im Bergbau wurde z.B. Elektroschrott einfach in ausgedienten Stollen gelassen und diese versiegelt; PCB-haltiges Transformatorenöl wurde – wie Bergleute versichern: auf Anweisung „von oben“ – einfach in die Stollen ablaufen gelassen. In den stillgelegten Bergwerken wird das belastete Grubenwasser ohne Genehmigung abgelassen bzw. es steigt bis zum Grundwasser empor, wenn es nicht dauernd durch Pumpen daran gehindert wird – die Pumpen sollen aus Kostengründen abgeschaltet werden. Die Bergleute haben damals übrigens ohne Schutz gearbeitet, viele von ihnen sind an Krebs erkrankt. Es gibt Stellen an Lippe und Ruhr, wo die RAG mit Billigung der Aufsichtsbehörden Millionen Kubikmeter Grubenwasser einleitet. Die RAG führt Messungen durch und kommt zu dem Ergebnis, das Wasser an den Einleitungspunkten sei unbedenklich und würde außerdem durch den Fluss verdünnt. Umweltschützer kommen zu anderen Ergebnissen: sie haben Sedimentproben genommen, denn die PCBs sind wasserunlöslich, haften aber an Staubpartikeln, die sich bei geringerer Strömungsgeschwindigkeit natürlich am Boden ablagern.

NRW-Umweltminister Remmel sieht keine Möglichkeit, das gesetzwidrige.Einleiten zu verhindern. „Es ist nicht erlaubt, giftige Stoffe ins Gewässer einzuleiten... Was mache ich dann mit dem Wasser? Sollen wir das da unten lassen? Es ist eine Frage, die jedenfalls mit technischen Möglichkeiten zur Zeit und mit rechtlichen Möglichkeiten nicht abschließend beantwortet werden kann. Nur: wenn heute keine Ableitung von Wässern stattfinden würde, also nichts abgepumpt würde, würde uns das ganze Ruhrgebiet absaufen... Ich weiß darauf keine Antwort, um ehrlich zu sein.“ (Fernseh-Interview)

Tja, die herrschenden Gesetze sind die Gesetze der Herrschenden, sonst könnte man ja das Verursacherprinzip anwenden und den Verursacher für die Abwasserreinigung heranziehen –Bestandschutz vor Gesundheitsschutz? In den USA stellte die Firma Monsanto PCB her und wird von Geschädigten verklagt – in Deutschland stellte die Firma Bayer PCB her, fühlt sich aber für die Folgen nicht verantwortlich und verdient sogar an der Verbrennung der von ihr hergestellten Gifte!

Wie sieht es mit der PCB-Belastung von Gebäuden aus? Nach den nicht nur für NRW geltenden Richtlinien ist bei Räumen mit 3000 ng (nannogramm) PCB pro Kubikmeter Raumluft eine akute Gesundkeitsgefahr nicht mehr auszuschließen, der Raum darf nicht mehr genutzt werden; bei Werten zwischen 300 und 3000 ng/m³ muss „mittelfristig“ saniert werden und Räume mit weniger als 300 ng gelten als unbedenklich.

Die Arbeitsgemeinschaft der kommunalen Spitzenverbände (Unternehmer in NRW) teilte vor 2 Jahren mit, auf ihre Empfehlung „ist die PCB-Problematik grundsätzlich... systematisch durch Überprüfung der Gebäude abgearbeitet worden... insbesondere in den Jahren von 1996 bis 2003...In den letzten Jahren sind nach der o.a. Schadstoffsanierung ... nur wenige weitere Einzelfälle bekannt geworden... Bis zum heutigen Tag sind den kommunalen Spitzenverbänden keine weiteren aktuellen Fälle zur Kenntnis gegeben worden, in denen PCB in kommunalen Gebäuden noch festgestellt worden ist. ... bis zum Jahr 2003 (ist) in den Städten und Gemeinden die PCB-Problematik abgearbeitet worden und (sind) in den letzten Jahren lediglich Einzelfälle aufgetreten...“

Schön wäre es! Dabei muss man wissen, dass die für NRW und Deutschland geltenden Richtlinien mit den oben genannten Richtwerten völlig veraltet sind und um das 50fache höher liegen als die von der WHO schon 2003 empfohlenen Werte! Wir trauen jeder/jedem Leser(in) zu, 3000 ng durch 50 zu teilen... Die Gebäude wurden/werden oft nur „freigemessen,“ nicht freigemacht oder gar neu gebaut. Dass die Richtlinien überholt sind, ist den Verantwortlichen bekannt: „Gehört ja, aber – äh – wie gesagt: wir haben ein bestehendes Regelwerk, welches nach wie vor gilt, und nach dem wird gewertet.“ So ein Verantwortlicher vom Amt für Vermögen und Bau in Baden-Württemberg.

Außerdem vermutet das Bundesumweltamt, dass immer noch 50-80 % der PCBs in Gebäudeteilen vorhanden sind. In mehr als 78 Städten in NRW sind landeseigene Gebäude noch immer belastet, z. B. die Unis in Bochum und Düsseldorf, das Unizenter in Köln, ein Hochhaus mit mehreren hundert Wohnungen. Das Studentenwerk als Miteigentümer möchte eine Sanierung erreichen, doch die Eigentümergesellschaft „Haus und Grund“ wehrt sich dagegen: Einer ihrer Sprecher in einem Interview: „Wir haben in Deutschland in zahlreichen Wohngebäuden, in öffentlichen Gebäuden PCB-belastetes Material und das würde ja zur Folge haben, dass auch in diesen Wohnungen und in diesen Häusern, in diesen Gebäuden ebenfalls PCB-Sanierungen durchgeführt werden müssen - das kann ich mir nicht vorstellen, dass hier (!!!- AZ-Red.) ein Gericht dazu eine Entscheidung diesentsprechend treffen würde.“ Wir – ehrlich gesagt – auch nicht; die Sanierungskosten für das Unizenter Köln werden auf etwa 50 Mio € geschätzt – und soviel ist die Gesundkeit „der da unten“ dann doch nicht wert. „Bestabdschutz...“ – ach, das hatten wir ja schon!

Auch in Baden-Württemberg und Hessen haben neuere Messungen an öffentlichen Gebäuden wie Schulen und Universitäten ergeben, dass viele „sanierte“ Gebäude noch stark belastet sind, PCB wurde in Farben, Lacken und Fugen eingesetzt. Es gaste im Laufe der Zeit aus diesen „Primärstoffen“ aus und belastete „Sekundärstoffe“ wie z.B. das Mobiliar. Wurde dieses bei der Sanierung nicht ebenfalls entfernt, gaste PCB wiederum aus und zog auch in das neue Baumaterial ein. „Freigemessen“ wurden Räume auch dadurch, dass nicht bei hohen Raumtemperaturen (Sommer, Heizung im Winter) gemessen wurde – dann entweichen die PCB-Verbindungen nämlich stärker als bei niedrigen und schädigen die Menschen im Raum mehr.

PCB ist nicht nur ein Dortmunder Problem – PCB ist ein Problem für alle Menschen in Deutschland. Bei der vorherrschenden „christlich-abendländischen Leidkultur“ (manche sagen Kapitalismus dazu) ist zu befürchten, dass die dieser Kultur Unterworfenen nicht nur mit ihrem Geld, sondern auch mit ihrer Gesundheit für so manchen „Bestandschutz“ zahlen müssen...

 

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19 (3-2017) PCB/Envio-Prozess in Dortmund eingestellt –

KEIN FREISPRUCH !

Angst ist ihr ständiger Begleiter“ – so lautet der erste Satz des Kommentators im Dokumentarfilm „Grünkohl, Gifte und Geschäfte“ (2012/13). Und fast der letzte Satz lautet geradezu hellseherisch: „Ob sich am Ende überhaupt jemand verantworten muss, ist völlig unklar.“

Der letzte Satz des Richters im fast fünf Jahre dauernden Prozess lautete: „Dann wär’s das für heute.“ Er hatte vorher die Einstellung des Prozesses verkündet – ohne Verurteilung der Angeklagten, allerdings auch ohne deren Freispruch.

AZ hat seit Beginn des Prozesses (9. Mai 2012) immer wieder berichtet. Er wird von vielen als einer der größten Umweltskandale in Deutschland bezeichnet, aber auch als Politik- und Justizskandal. In der Anklage ging es um die Vorwürfe Körperverletzung, Umweltschädigung und Verstöße gegen Auflagen der Bezirksregierung Arnsberg. Envio in Dortmund machte seinen Reibach vor allem mit dem Ausschlachten von stark PCB-belasteter Transformatoren. PCB gehört zu den 12 giftigsten Stoffgruppen der Welt – seine Verwendung ist weltweit seit langem verboten. AZ ist hierauf in den früheren Artikeln ausführlich eingegangen. Betroffen von dem durch das Ausschlachten der Transformatoren freigesetzte PCB waren nicht nur die für den Profit von Envio arbeitenden (Zeit)Arbeiter, sondern auch die Anwohner.

Also: alle drei Anklagepunkte erfolgreich abgewehrt – aber wieso dann nur Einstellung des Verfahrens und kein Freispruch?

Wir haben die Diskussionen um den Prozessverlauf in den fast 5 Jahren aufmerksam verfolgt. Der Staatsanwalt ist kein Anfänger in seinem Beruf – er hätte wissen müssen, dass eine Körperverletzung durch PCB sehr schwer zu beweisen ist: alle Schädigungen (außer Chlor-Akne) können auch durch andere Ursachen hervorgerufen werden; eine „fahrlässige“ oder „vorsätzliche“, „billigend inkauf genommene“ Gefährdung hätte „belastbar“ nachgewiesen werden können – aber so lautete die Anklage eben nicht. Ein Versehen?

Übrigens war die Einstellung des Verfahrens von den RichterInnen vor etwa anderthalb Jahren schon einmal vorgeschlagen worden mt dem Hinweis darauf, dass es wohl zu keiner Verurteilung kommen werde. Mit diesem Vorschlag war die Verteidigung erwartungsgemäß einverstanden und erstaunlicherweise die Nebenkläger auch – nur die Staatsanwaltschaft nicht. Die Nebenkläger hatten die Aussichtslosigkeit des Verfahrens für ihre Mandanten wohl eingesehen und stimmten der Einstellung zu unter der Bedingung, dass ihren Mandanten eine Entschädigung gezahlt wird – insgesamt 80.000 Euro (nicht für jeden, sondern für alle zusammen!).

Durch die Weigerung der Staatsanwaltschaft zog sich der Prozess aber noch weitere mindestens 16 Monate in die Länge – auf Kosten der Steuerzahler. Nun wurde er doch beendet mit der schon früher vom Gericht vorgeschlagenen Begründung. Es gibt allerdings mindestens zwei Dinge zu bemerken:

erstens: es sind etwa eineinhalb Jahre Zeit vergangen – gut für wen? Böse Menschen argwöhnen, es könne um das Überschreiten von Verjährungsfristen gehen – aber wir sind ja keine bösen Menschen;

zweitens: als Entschädigung werden 80.010 Euro gezahlt – also 10 Euro mehr, wenn das den Kampf nicht gelohnt hat!

Übrigens „Entschädigung“ – wofür eigentlich? Wir schlagen unseren Lesern und Leserinnen vor, jetzt mit dem Weiterlesen einmal innezuhalten und sich einen möglichen Entschädigungsgrund zu überlegen (Halt! Noch nicht weiterlesen!)

Die von den ursprünglich 51 noch übriggebliebenen 21 PCB-Belasteten erhalten die Entschädigung für die Belastung, die sie durch die Länge des Prozesses ertragen mußte! Das ist unglaublich! Wir freuen uns natürlich darüber, dass jeder von ihnen etwas Geld erhält – im Gegenwert von 11 Monaten Mindestlohn!), aber wir sind doch erstaunt. Da haben die Nebenkläger – vor allem eine junge Anwältin – alles nur irgendwo in der Welt aufzutreibende Informationsmaterial über Gesundheitsschäden nicht nur bei Menschen durch PCB herangeschleppt: nichts davon war nach Auffassung des Gerichts als Fakt „belastbar“! An menschlichem Gewebe nachgewiesene (!) Schädigungen durch PCB wurden als Beweis nicht akzeptiert, weil die Untersuchung „im Reagenzglas“ durchgeführt wurde und nicht am lebenden Menschen (der Wissenschaftler war also nicht Dr. Mengele). Also: Ein Schaden durch PCB ist juristisch belastbar nicht nachgewiesen.

Und die lange Prozessdauer? Uns ist kein einziges Attest, kein einziges Gutachten eines Mediziners oder Psychiaters bekannt, in dem dieser seinem Patienten bestätigt, dass seine Verdauungs-, Schlaf- oder sonstigen Beschwerden auf die Länge des Prozesses zurückzuführen seien! Noch einmal: wir freuen uns, dass die 21 Nebenkläger wenigstens ein bißchen Geld bekommen, und hoffen, dass wir das nun nicht gefährden – aber die unterschiedlichen Maße, die das Gericht hier anlegt, sind doch zumindest befremdlich!

Was ist übrigens mit den zahlreichen Menschen in Deutschland, die durch den Prozessverlauf einen Schaden in ihrem Vertrauen in die Justitz und Politik erlitten haben? Wer entschädigt die?

Der Prozess ist also vorbei. Allerdings ist es für den Hauptangeklagten Dirk Neupert offenbar noch nicht vorbei: einen Tag nach Prozessende meldeten die Medien, dass gegen ihn nun ermittelt wird wegen Steuerhinterziehung 2007 und 2010 in Zusammenhang mit einem Betrieb, den er in Spanien hat(te?). Es kommt eine gewisse Schadenfreude auf, nur von diesem Prozess haben die PCB-Opfer nichts.

Zum Schluss etwas Positives: In Essen-Kray wurde der Recycling-Betrieb der Firma Richter stillgelegt. Die Firma hatte eigene Untersuchungen angestellt über die PCB-Belastung durch ihre Schredder im Wohngebiet; von LANUV vor kurzem mit anderen Methoden durchgeführte Untersuchungen ergaben jedoch viel höhere Werte. Richter hat „seit ewig“ einen Bestandsschutz – der schützte sie jetzt jedoch nicht davor, dass ihr das Recht zum Weiterbetrieb jetzt entzogen wurde. Richter verzichtete auf einen Widerspruch und legte die beiden Anlagen still. Gegen Richter hatte die Bürgerinitiative gegen Giftschredder in Kray etwa 20 Jahre gekämpft – die Stillegung ist auch auf ihren Kampf zurückzuführen. Herzliche Glückwünsche von uns dazu! Ein weiteres Bespiel für uns dafür:

WIR KÖNNEN ETWAS ERREICHEN!